1:00 am .: 1:00 pm

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1:00 am .: 

Rosen sind rot, behauptet die Werbung mit der halbnackten Frau und den vielen Tatoos.

Bahnhof Lichtenberg, Berlin. Die große graue Uhr zeigte bis eben noch 00:59 an, jetzt springt der große Zeiger auf die Zwölf. Zwei Frauen betreten den Bahnsteig, die größere scheint leise mit ihrer Begleitung zu sprechen. Ich beachte sie nicht. Genau so wenig wie die Schritte, die jetzt von hinten links auf mich zukommen. Wird nur ein Fahrgast sein, nur ein harmloser Besoffener, der sich gleich auf einem der Sitze niederlässt und die Seele aus dem Leib kotzt. Einer von der Sorte, an den man sich morgen nicht mal mehr erinnert, sage ich mir. Um 23:57 hätte meine Bahn kommen sollen, 6 Minuten Verspätung wegen Bauarbeiten. Die Schritte kommen näher. Eine Schande eigentlich, sage ich mir, dass man als Frau heutzutage noch Angst im Dunkeln haben muss. Eigentlich unnötig, denke ich, und beschließe, jerzt keine Angst mehr zu haben. Doch als sich während meinem Blick auf die Uhr - 00:02 - eine Hand von hinten um mich legt, mir die Luft abschnürt und sich auf meinen Mund presst, verstehe ich plötzlich meine eigene Angst.

Er riecht nach Schweiß, nach Alkohol, nach dem Typen, mit dem im Club keiner tanzen wollte. Meine Tritte bewirken nichts, meine Schreie scheinen stumm, als er mich irgendwohin zieht, die schwitzende Hand weiterhin auf meinem Mund. Da ist ein Druck auf meinen Bauch, ich kann kaum atmen, kann nicht schreien, kann mich nicht einmal mehr wehren, da sind Tränen, die meine Augen nicht verlassen wollen, da ist der Schmerz in meiner kaputten Schulter, als er sie brutal gegen die mit Graffiti beschmierte Wand presst. Es ist dunkel hier, ich kann sein Gesicht kaum erkennen, nehme nur sein Gewicht auf meinem, plötzlich so kleinen, Körper wahr, sehe nur noch meine eigenen Tränen, als er an meinem Rock herumzehrt und rieche nur noch den ekelhaften Geruch von Schweiß, gemischt mit Alkohol und Kotze, den ich schon immer so gehasst habe. Und ich fühle mich schwach, hilflos, machtlos. Ich kann nicht denken, kann mich nicht konzentrieren, die Gedanken fliegen in wilden Fetzen in meinem Hirn herum, ungeordnet, verwirrend, verängstigt und als ich die Augen schließe, all meine Muskeln anspanne, und mich taub, stumm und tot stelle, nehme ich von all dem um mich herum gar nicht mehr so viel war. Merke kaum, dass er meinen Rock endlich geöffnet bekommen hat, dass er mich weiter in die schmutzige Ecke drängt, will gar nicht mehr, dass es aufhört – nur, dass es endlich, endlich vorbei ist. Und meine Schulter tut weh, und meine Zunge auch, auf der herumbeiße, aber nichts ist so grauenhaft wie der Schmerz, als er sich gegen mich presst und meine Beine auseinanderdrückt. Und plötzlich ist alles schwarz. 

3:00 am .:

„Rosie, da! Da unter dem - ja genau. Beeil dich." Eine Stimme. Frauenstimme, glaube ich. Weiß man ja nie. „Ja. Wir gehen zu uns." Alles ist ganz hell. Da ist ein Licht, das blendet mich. Es soll aus gehen. Macht das Licht aus. „Das ist jetzt egal." Was ist egal? Macht doch das Licht aus. Und dann ist da wieder etwas unter mir. Etwas stabiles in meinem Kniekehlen und eine Hand an meinem linken Schulterblatt. Meine Lippen sind wie zugeklebt, nicht zu öffnen, und ich will schreien, doch da kommt nichts raus und ich will weinen, doch meine trockenen Augen lassen mich nicht, und ich will hier weg, aber meine Beine würden mich nicht tragen. Und ich will, dass er mich loslässt, und, dass er geht, und, dass das hier aufhört, und mein schreien ist nicht mehr als ein krächzen, und due Arme um mich sind immernoch da. Und ich will nicht mehr losgelassen werden, ich will, dass die Arme bleiben, und, dass sie mich beschützen, vor diesem Gefühl und diesem Schmerz, und am Ende will ich nur noch da liegen und der Stille lauschen. Und als da ein Ruckeln ist, und die Arme sich mehr bewegen, und als da ein Geruch ist, von irgendwelchen Blumen, und als da etwas weiches unter mir ist, und die Arme langsam verschwinden, da begreife ich noch nicht, dass diese Nacht mein Leben sowie meine Träume ändern würde. Aus meinem Leben würde ein Existieren werden. Und aus meinen Träumen würden Albträume werden.

❁ blaue rosen ❁Where stories live. Discover now