Ich wurde mal gefragt, mit welcher Tätigkeit ich aufhören würde, wenn ich es könnte. Damals hatte mein fünfzehnjähriges Ich, noch keine passende Antwort darauf. Ich hielt es für überflüssig, solch eine Frage zu beantworten. Zu beantworten, weil sie für mich sinnlos war. Und dennoch war es eine Fragestellung gewesen, die mir bis heute im Gedächtnis geblieben war.
Und wenn man mich jetzt noch einmal danach fragen würde, hätte ich eine Antwort. Eine Tätigkeit, mit der ich aufgehört hatte. Eine, die nicht üblich war. Einige Menschen hörten mit dem Rauchen, dem Trinken oder der Arbeit auf. Ich hörte mit dem Reden auf. Genauso wie es bei diesen Tätigkeiten ihre Gründe gab, warum man mit ihnen aufhörte, gab es diese auch bei mir. Nur, dass meine damals nicht nur irgendwelche Gründe waren, sondern ein Zustand war, der mich in die Knie gezwungen hatte, mit dem Sprechen aufzuhören. Denn sowie jeder seine Geheimnisse pflegte, so pflegte auch ich meine. Schmerzvoll und zerrissen.
»Du musst Abmerly sein«, die Stimme des Therapeuten, rüttelte mich aus meiner Trance. Amberly. Dieser Name trug so viel Gewicht auf sich. So viel... Kaputtheit. Oft wünschte ich, ich wäre namenlos. Mein Blick glitt stumm zu dem hochgewachsenen Mann. »Komm doch bitte herein«, sein Tonfall klang freundlich. Hier stand ich also. Vor einer Praxis, für Psychotherapie. Die Tatsche, dass man mich hierher verdonnert hatte, machte mein Gefühlschaos nicht gerade besser. Ich wusste, dass meine Eltern sich nur sorgten, doch es war alles gut. Ich hatte mich mit meinem neuen Leben abgefunden. Mit einer Tätigkeit aufgehört, mit der ich für den Rest meines Lebens, leben konnte. Immer noch hin und hergerissen, ob ich diesen Schritt wirklich wagen, oder einfach die Flucht ergreifen sollte, stand ich da. In meinem Kopf tobte es. Schließlich entschloss ich mich, mich meinem Schicksal zu ergeben und trat in die Praxis ein. Sofort umschloss mich eine wohlige Wärme. Meine innere Stimme verfluchte mich, weil ich mich, hätte, dicker anziehen sollen. Es war Mitte November und ich lief nur in einem dicken, dunkelblauen Rollkragenpullover und einer schwarzen Strumpfhose durch die Straßen Londons. Kein Wunder, dass mir die Wärme hier so willkommen war. Meine Füße folgten dem Mann in das Behandlungszimmer. »Bitte«, wies er mich auf einer seiner beiden Sessel an, mich zu setzen. Zögerlich ließ ich mich auf dem roten Ohrensessel nieder. Dabei begutachtete ich genauestens das Zimmer. Es war ein kleiner Raum, der in einer hellblauen Farbe bestrichen war. An den Wänden hingen unzählig bemalte Bilder, die von anderen Mitpatienten sein mussten, soweit ich das anhand der Namen erschließen konnte. In den Ecken standen Pflanzen. Alles in einem, hatte man versucht den Raum mühevoll einzurichten. So dass man sich einfach wohlfühlen musste! »Zu erst einmal; mein Name ist Sebastian Green«, reichte er mir seine Hand, die ich nur zögerlich schüttelte. »Ich weiss, dass hier muss mehr als nur schwer für dich sein, Amberly, aber wir werden schon einen Weg finden, deine Worte wieder zu finden, nicht wahr?« Die Frage wahr wohl eher, ob ich das überhaupt wollte! Er stellte eine Frage in den Raum, die ich ihm nicht beantworten würde. Beantworten würde, weil meine Entscheidung vor langer Zeit gefallen war. »Aber alles zu seiner Zeit. Ich denke, ich sollte dir erst einmal erklären, was eine Verhaltenstherapie überhaupt ist.« Mr. Green räusperte sich, nickte bekräftigend und fing an, mir von seiner Arbeit zu erzählen. Er erzählte mir, dass wir gemeinsam versuchen würden, etwas an meinem Denken und Verhalten zu ändern. Das wir der Sache nachgehen täten, wieso ich vor einem Jahr plötzlich aufgehört hatte, zu sprechen. Ich mich bitte mit Zetteln verständigen sollte. Eine Therapie Schwerstarbeit sei, aber wir das gemeinsam schaffen würden. Das dass höchste Gebot einer Therapie, dass Vertrauen war. In seinen Sätzen schwammen mir zu viele würde's mit! Um es genauer zu sagen, zwei. Es waren zwei zu viel! Denn an meinem Denken und Verhalten würde ich nichts ändern! Konnte man nichts verändern! Und ob wir das schaffen würden, konnte ich ihm auch gleich schon aufschreiben! Ich war wütend! Mehr als nur wütend. Denn, hatte man nicht gelernt, dass Geheimnisse, Geheimnisse blieben? Und wieder kam in mir die Frage auf, wieso ich meinen Eltern nicht einfach weiß machen konnte, dass ich keine Hilfe benötigte. Das alles Bestens sei und sie sich lieber um meinen Bruder wieder kümmern konnten. Denn der hatte im Gegensatz zu mir, wirklich Probleme!
»Ich sehe schon. Weißt du, Amberly, ich kann dich hier zu nichts zwingen. Und ehrlich gesagt, ist das auch nicht meine Intuition. Psychotherapie kann nur klappen, wenn beide zusammen arbeiten. Es bringt mir also nichts, etwas zu erarbeiten, wenn du nicht mit mir arbeitest«, fügte er hinzu, als er sah, dass ich mich zu all dem nicht regte. Vor mir lagen eine Menge weiße Blätter, von denen ich mir eins nahm.
Wissen Sie denn nicht, dass man nicht in der Stillen eines Kellers gräbt? Sie haben Recht. Sie können mich hier zu nichts zwingen, doch meine Eltern schon.
Schrieb ich und schob ihn ihm unter die Augen. Es mochte sein, dass nicht er derjenige war, der mich zu etwas zwingen konnte, doch meine Eltern schon! Zwangen, indem sie mir tagtäglich vor Augen führten, wie viel sorgen sie sich doch um mich machten und sie sich doch nur ihren kleinen Engel wieder wünschten. Ihren Engel, der mit ihnen sprach, wenn es ihm schlecht erging. Doch auch Engel haben ihre Geheimnisse.
»Da hast du Recht, aber ich bin ein Bauarbeiter, der im Keller, die Stille vertreiben will. Denn was wäre Stille ohne Lärm? Meinst du wirklich, dass deine Eltern dich hier zu zwingen können?«
Sie können einen Emotional dazu zwingen, ja!
Kommentierte ich erneut.
»Wie genau meinst du das, Amberly?»
Na, so wie ich es meinte! Sie zwingen mich, indem sie mich 24/7 damit voll heucheln, endlich zu einem Seelenklempner zu gehen! Und da ich das Gejaule nicht länger ertragen habe, habe ich mich ihrem Wunsch unterzogen und hier bin ich!
»Verstehe. Aber es war ein Wunsch, richtig? Sie haben dich nicht gezwungen. Sie haben dir nicht gesagt, dass du jetzt unbedingt zu einem Psychologen musst, sondern dir signalisiert, dass du Hilfe brauchst. Ich finde zwischen: müssen und wünschen liegt ein großer Unterschied, oder? Korrigiere mich, wenn ich falsch liege«, betonte er das Fachwort seiner Arbeit besonders und sah mir abwartend in die Augen. Er mochte, indem war er gesagt hatte recht haben, aber dennoch fühlte es sich für mich wie gezwungen an. In mir brodelte es, wie Feuer. Verbissen hielt ich seinen Blick. Ich denke, dass der Blick mehr als tausend Worte, in diesem Moment gesagt haben musste. Gesagt haben musste, dass das hier mehr als nur falsch war! Dass das hier nicht meine Wunschvorstellung war.
»Es tut mir leid, aber unsere Zeit ist leider gleich schon um. Ich würde dich gern aber noch um etwas bitten. Vorausgesetzt, wir sehen uns nächste Woche wieder. Was meinst du? Kannst du dem hier – trotz all deiner Widerstände – eine Chance geben? Denn ich würde sehr gern mit dir den Keller beschallen, Amberly. Die Stille deiner Worte, durchkämmen.«
Die Stille meiner Worte durchkämmen.
Als man mich damals danach fragte, da hatte man nur eines vergessen. Eines vergessen zu erwähnen. Nämlich diese, dass man seine einst angefangen Tätigkeiten wieder erlernen konnte. Man hatte nicht dabei bedacht, was die Langzeitlösung sein könnte, damit man ja nicht erst wieder mit ihr anfing. Und genauso wie sie es nicht bedacht hatten, hatte ich es in diesem Augenblick auch nicht. In dem Moment, als ich die Praxis des Therapeuten betreten hatte, indem Moment war klar, dass ich nun nicht mehr aus meinem Keller einfach so herauskommen würde. Sondern erst, bis all der Raum mit Worten bemalt war. Bis erst, der Klang meiner Worte, die Stille versiegelt hatten.
Erst, bis ich meine verlorenen Worte wiedergefunden hatte. Erst dann war ich frei.
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My lost words
Teen FictionMu·tis·mus /Mutísmus/ Substantiv, maskulin [der]MEDIZIN absichtliche oder psychisch bedingte Stummheit; Stummheit ohne organischen Defekt -- »Als ich aufhörte zu sprechen, hörte auch die Welt auf, sich für mich zu drehen.«