1. Ein ganzer Berg Probleme

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Als Emmys Vater vor fast einem Jahr beim Springreiten tödlich stürzte, brach für sie und ihre Mutter eine Welt zusammen. Ab diesem Tag schwor sie sich nie wieder zu reiten. Nie mehr wollte sie auf ein Pferd steigen.

Bisher war das für sie kein größeres Problem gewesen, denn in Berlin, wo sie nach dem Tod ihres Vaters mit ihrer Mutter in eine kleine Mietwohnung gezogen war, gab es nicht allzu viele Pferde. Doch heute sollte sich das Schicksal wenden. Noch einmal würde in ihrem Leben alles anders werden.

Als sie die kleine, aber gemütlich eingerichtete Zwei-Zimmer-Wohnung betrat, sah sie ihre Mutter auf einem der alten Holzstühle am Esstisch sitzen. Sie hatte ihre Augen halb geschlossen und starrte teilnahmslos gegen die Wand. Langsam bewegte sie sich auf sie zu, ihre Mutter schien sie jedoch gar nicht zu bemerken.

Das Teenagermädchen seufzte und ließ seinen Blick durch den Raum wandern, in der Hoffnung, dass sich ihr Verdacht als falsch erwies. Doch als sie die Flasche mit der klaren Flüssigkeit auf der Spüle stehen sah, wusste sie, dass sie sich nicht getäuscht hatte.

Mit festen Schritten ging sie in die Küche und roch an der fast leeren Flasche. Sofort stieg ihr der stechende Geruch von Alkohol in die Nase. Angewidert verzog sie das Gesicht. Zweifelsfrei handelte es sich um Wodka.

Seit dem Tod ihres Mannes griff die Mutter wegen jeder Kleinigkeit zur Flasche. Erst trank sie nur heimlich, wenn ihre Tochter bereits im Bett lag oder noch in der Schule befand, doch nach einem halben Jahr konnte oder wollte sie es nicht mehr geheim halten. Sie trank, wann immer ihr danach war und dann nicht nur ein bisschen, sondern so viel, bis sie keinen klaren Satz mehr herausbrachte. Emmy kannte das inzwischen. Und sie wusste auch, dass sich ihre Mutter, sobald sie morgen ihren Rausch ausgeschlafen hat und halbwegs nüchtern war, bei ihr entschuldigen und schwören würde, dass sie das nie wieder tut. Aber das Mädchen kannte dieses Spiel bereits. Sie konnte ihr nicht mehr glauben. Sie wusste, dass sie bei kommenden Problemen genauso zum Alkohol greifen würde. Sie versuchte ihre Gefühle, die Trauer um ihren Mann und auch alle anderen Sorgen und Schwierigkeiten in der hochprozentigen Flüssigkeit zu ertränken. Was ihr allerdings nicht gelang. Doch das wollte sie nicht sehen. Sie war zu sehr in ihren negativen Emotionen und der düsteren Denkweise festgefahren.

Emmy hingegen war über den Verlust ihres Vaters verhältnismäßig schnell hinweg gekommen. Vielleicht hing das damit zusammen, dass sie nach dem Tod einen Großteil seiner Arbeiten übernehmen musste. Nachdem er nicht mehr da war, blieben viele Aufgaben an ihr hängen. Vom einen auf den anderen Tag war sie dazu gezwungen, erwachsen werden. Besonders als ihre Mutter dem Alkohol verfiel.

Obwohl sie wusste, dass sie mit Schreien nicht weiterkam, schritt sie auf ihre betrunkene Mutter zu und brüllte sie an: „Warum hast du das getan?"

Die Fünfzehnjährige fühlte sich mit der Situation restlos überfordert. Wie reagiert man als Tochter, wenn die Mutter sich schlimmer aufführt, als ein pubertierender Teenager?

„Weshalb kannst du nicht einen verdammten Tag ohne dieses Scheißzeug leben?"

Seelenruhig lehnte sich die Frau auf dem Stuhl zurück und lächelte ihrem Kind entgegen.

„Du glaubst gar nicht, was passiert ist", begann sie zu lispeln. Dann beugte sie sich unkoordiniert nach vorne und griff nach einem geöffneten Brief, der auf dem Esstisch lag. Ihr Oberkörper wankte bei der Bewegung bedrohlich. Der Alkohol hatte ihr bereits die Kontrolle über die Feinmotorik genommen.

„Hui, da ist ein Karussell in meinem Kopf. Alles dreht sich", scherzte sie.

„Lies dir das durch."

Sie reichte Emmy das Papier. Doch bevor sie es lesen konnte, erklärte ihre Mutter ungeduldig: „Die haben uns die Wohnung gekündigt und nun sitzen wir auf der Straße."

Der geheimnisvolle Rappe - Teil 1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt