Als beide die Wohnung betraten, war es merkwürdig ruhig. Fast zu ruhig.
Kurzzeitig dachte Emmy, ihre Mutter hätte das Haus verlassen, doch als sie ins Schlafzimmer schaute, entdeckte sie sie im Bett. Sie hatte ihre Klamotten noch an und lag quer auf der Matratze. Vermutlich war sie in den Schlafraum gewankt und vor dem Bett wie ein nasser Sack umgefallen. So sah es zumindest aus.
Angewidert schüttelte sie ihren Kopf. Sie konnte es nicht nachvollziehen, weshalb man sich so die Kante geben musste. Und das auch noch regelmäßig.
Hätte ihre Mutter nicht leise geschnarcht, hätte man annehmen können, sie wäre tot.
Emmy schüttelte die Zudecke auf und deckte sie zu. Anschließend ging sie zurück in die Küche, wo Tom bereits mit dem Aufräumen begonnen hatte.
Als er sie fragend anschaute, erklärte sie: „Sie liegt im Bett und schläft ihren Rausch aus."
Zustimmend nickte er.
„Das ist wohl das Beste, was sie aktuell machen kann."
Den Rest Wodka, der sich noch in der angebrochenen Flasche befand, versenkte er im Abfluss.
Nachdem sie gemeinsam die Wohnung in Ordnung gebracht hatten, verabschiedete er sich.
„Mein Angebot mit der Wohnung steht. Gebe mir bitte morgen Bescheid, was deine Mutter davon hält. Ich gehe jetzt nach Hause und du solltest ebenfalls schlafen gehen. Es war ein harter Tag für dich und morgen ist wieder Schule."
Am kommenden Morgen war Emmys Mutter wieder nüchtern. Wie zu erwarten, entschuldigte sie sich für ihr Verhalten von gestern und beteuerte, dass es ihr Leid täte. Außerdem schwor sie zum unendlichsten Male, dass sie niemals mehr auch nur einen Tropfen Alkohol anrühren würde. Um ihren guten Willen zu bekräftigen, versprach sie zusätzlich direkt Tom anzurufen und mit ihm noch heute Vormittag die neue Wohnung zu besichtigen.
~ * ~ * ~ * ~
Der Tag des Auszugs rückte näher. Da in zwei Wochen Sommerferien wären, beschloss Emmys Mutter, sie für die letzten Schulwochen beurlauben zu lassen. So konnten sie gemeinsam Umzugskartons backen und die Formalitäten bezüglich der Ummeldung regeln.
Obwohl die Zimmer der Wohnung zunehmend leerer wurden, weil immer mehr in den Kisten verschwand, begriff Emmy erst am Tag des Auszuges, was der Umzug für sie bedeutete. Erst als sie in das vollbepackte Auto stieg, realisierte sie, dass sie vermutlich nie mehr an diesen Ort zurückkommen würde. Nie wieder würde sie ihre Klassenkameraden sehen und mit ihren Freunden konnte sie nur noch Telefonkontakt halten. Sicherlich könnte man sich vielleicht irgendwann Mal besuchen, aber da der neue Wohnort rund 300 Kilometer von Berlin entfernt lag, würde das definitiv nicht jedes Wochenende funktionieren. Außerdem kannte sie es ja bereits von ihrem ersten Umzug: Am Anfang weinte man sich hinterher, nach zwei Wochen telefonierte man noch fast täglich, nach vier Wochen ausschließlich einmal in der Woche, nach vier Monaten nur noch sporadisch und nach spätestens sechs Monaten gar nicht mehr. Sobald man den anderen nicht mehr sah, verlor man sich aus den Augen und kurz danach auch aus den Gedanken.
Die ersten paar Kilometer fühlte sie sich wehmütig. Sie kämpfte mit den Tränen. Doch nach der Hälfte der Strecke wechselte die Trauer in Vorfreude.
Wie würde das neue Zuhause aussehen? Wie groß beziehungsweise klein war das Dorf? Würde sie dort schnell Anschluss zu Gleichaltrigen finden?
Ihr Kopf war voller Fragen.
Da bisher nur ihre Mutter zusammen mit Tom die Wohnung besichtigt hatte, wusste sie selbst kaum etwas über ihre neue Heimat. Sie kannte nur die Erzählungen ihrer Mutter und die waren nicht gerade detailreich.
Mal bastelte sich ihre Fantasie eine wunderschöne Kleinstadt mit lieben, netten Bewohnern zusammen und Mal war es ein düsteres Dorf mit seltsamen, unfreundlichen Menschen, die niemand Fremden bei sich haben wollten.
Nach knapp vier Stunden Autofahrt kamen sie endlich an.
Als Emmy ihr neues Wohnhaus sah, fühlte sie sich wie in einem Alptraum. Die Stadt war gar keine Stadt, sondern ein winziges Dorf, bestehend aus maximal fünfzig Häusern. Vermutlich gab es hier mehr Kühe als Einwohner.
Der Putz des Hauses bröckelte an zahlreichen Stellen und die Fenster wirkten, als würden sie beim nächsten Sturm aus den Rahmen fallen. Die ehemals weiß gestrichene Fassade sah im Sonnenlicht eher grau aus. Ein wenig hatte es die Ausstrahlung eines Hexenhäuschens.
Im Vorgarten waren die Blumen verwelkt und zwischen den Pflanzen wuchs überall Unkraut. Hier hatte sich schon jahrelang niemand mehr um einen schönen Eindruck und Ordnung bemüht.
Im Garten hinter dem Haus befand sich ein kleiner Urwald. Dass man hier kein Buschmesser benötigte, um von A nach B zu gelangen, war alles. Außerdem stand hier ein kleiner Holzschuppen. Das hölzerne Gebäude war das einzig gutaussehende auf dem gesamten Gelände. Er sah noch relativ neu aus und passte rein optisch gar nicht in die verwahrloste Umgebung.
Nachdem sie das Anwesen mit ihren Augen abgesucht hatte, betrachtete sie vorwurfsvoll ihre Mutter, die gerade die Haustür aufschloss. Es konnte nicht ihr Ernst sein, dass sie hier einziehen wollte!
„Was ist los, gefällt es dir nicht?", erkundigte sich ihre Mutter, als sie den erbosten Blick ihrer Tochter bemerkte.
Fassungslos schüttelte Emmy ihren Kopf.
„Hier bleibe ich bestimmt nicht! Das ist ja schlimmer, als hinterm Mond!"
Die erwachsene Frau seufzte.
„Ja, von außen ist es wirklich keine Augenweide, da gebe ich dir Recht. Aber von innen sieht es anders aus. Die Zimmer werden dir gefallen. Zudem können wir nicht zu viel erwarten. Um uns eine hochwertigere Behausung zu leisten, fehlt das nötige Kleingeld."
Trotzig verschränkte das Mädchen seine Arme vor der Brust und zog die Mundwinkel nach unten.
Ihre Mutter konnte gut nachvollziehen, wie sich ihre Tochter fühlte. Es war ein krasser Wandel von der Großstadt Berlin in ein Zweihundertseelendorf zu ziehen. Sie würde definitiv eine Weile benötigen, um sich mit der neuen Situation anzufreunden und anzukommen.
Als sie ohne ein weiteres Wort in das Hausinnere verschwand und sie alleine draußen stehen ließ, rang Emmy nach Fassung. Wie konnte ihre Mutter sie bloß so stehen lassen und ihre Meinung ignorieren?
Eher widerwillig betrat das Mädchen, nach kurzer Zeit warten, das Gebäude.
Obwohl ihre Stimmung am Tiefpunkt angelangt war, war sie positiv überrascht, wie das Innere der Wohnung aussah. Es war kein Vergleich zu der Außenfassade und dem Garten.
Ein Umzugsunternehmen hatte bereits die meisten Möbel an ihren Platz gestellt und die vorausgeschickten Kisten in der Mitte der Räume platziert. Von außen wirkten die Fenster gar nicht so groß, doch trotzdem drang viel Tageslicht ein. Die Zimmer waren hell ausgeleuchtet und wirkten freundlich. Vielleicht war das Haus doch nicht so schlecht, wie es in den ersten Minuten den Eindruck machte.
Ihr jetziges Zimmer war deutlich größer als ihr vorheriges Zimmer in Berlin. Ein weiterer Pluspunkt. Vom Fenster aus konnte sie fast die gesamte Straße überblicken und beobachten, wer vorbeilief.
Erschöpft ließ sie sich mit ausgestrecken Armen rücklings aufs Bett fallen. Eventuell hatte der Neustart in einer unbekannten Umgebung auch etwas Positives.
Wie das Leben auf dem Dorf wohl ablaufen würde? War es hier leichter oder schwerer, Anschluss zu finden als in einer Großstadt?
DU LIEST GERADE
Der geheimnisvolle Rappe - Teil 1
Teen Fiction»Schaue in die Augen eines Pferdes und du erkennst dich selbst.« Seitdem Emmys Vater tödlich verunglückte, ist nichts mehr wie vorher. Sie hat alles verloren. Ihrer Mutter fehlt die Kraft, um für sie da zu sein, ihre Wohnung in Berlin wird gekündigt...