The 5th Floor

37 9 9
                                    

Die kühle Luft in ihrem Zimmer legte sich wie ein Mantel über ihre nackte Haut. Loraine's Hände waren Rau, als hätte sie einst über Jahre hinweg eine Last getragen dessen Gewicht Spuren hinterließ.
Desto weiter man an ihren Händen hinauf glitt desto weicher wurde ihre Haut.
Sie war Anfang zwanzig. Die Decke lag zerknüllt am unteren Ende ihrer Matratze. Ihr junger Körper glühte. Die Gedanken sprangen wild durch das kleine Zimmer. Von Wand zu Wand, von der Decke zum Boden und wieder zurück in ihren Kopf um anschließend mit voller Wucht wieder gegen die Wand zu prallen. Das Fenster stand offen. Ihre Gedanken waren wie diese verdammten Eintagsfliegen welche zwar den  Weg ins Zimmer fanden aber zu dumm waren um wieder heraus zu finden. Immer knapp am Fenster vorbei aber niemals hindurch.
Im Stock darüber wohnte eine alte Dame die Tagsüber meist jungen Menschen Klavierunterricht gab und abends das immer gleiche Lied spielte als wäre sie in einer Dauerschleife gefangen.
In dumpfen Tönen hallte das Lied durch die alten Gemäuer. Die Dame wohnte schon seit 20 Jahren in der Wohnung und begrüßte Loraine am Tag ihres Einzugs mit einem großen Korb voller Obst.
Wie sie erzählte war sie in ihren jungen Jahren eine oft gebuchte Pianistin. Hübsch und begehrt. Ihren Mann lernte sie auf einem ihrer Konzerte kennen. Er war Tontechniker und hatte an diesem Abend nicht nur ihr Konzert gerettet, als die Technik zu versagen schien, sondern auch ihr Herz gewonnen.
Das Lied welches sie abends spielte hatte sie extra für ihre Hochzeit komponiert.
Das Leben schreibt aber nicht nur schöne Geschichten. Fünf Jahre nach der Hochzeit verstarb ihr Mann an Krebs. Sie hatte nie wieder jemanden so geliebt wie ihn und so hatte sie sich vorgenommen bis zum Schluss zu spielen und jungen Menschen das spielen beizubringen, mit der Hoffnung, dass wiederum sie eines Tages jungen Menschen das Klavierspielen beibringen werden, sowie das von ihr selbst komponierte Lied welches nach dem Tod ihres Mannes Teil des Unterrichts wurde.
Die alte Dame glaubte nicht an Gott aber daran, dass die Seele mehr ist als nur ein chemischer Prozess in ihrem Gehirn. Sie fühlte dass ihr Mann noch irgendwo da draußen war und so spielte sie weiter.
So auch an diesem Abend. Die dumpfen Töne verstummten als sich die alte Dame schlafen legte.
Loraine konnte von hier unten jeden ihrer Schritte hören. Es waren langsame, gut bedachte Schritte. Die Schritte einer alten Dame bei bei welcher schon der kleinste falsche Schritt eine gebrochene Hüfte und somit ein beschleunigter Verfall bedeuten würde.
Kurz war es ruhig in Loraine's Zimmer. Sie lag noch immer auf ihrer Matratze. Noch immer war sie Anfang zwanzig. Noch immer war es die gleiche Nacht. Ihre Hände waren Rau und das Fenster stand offen.
Im Raum daneben hörte sie etwas auf den Boden fallen. Es zersprang. Womöglich eine Vase oder ein Glas.
Das Laute stöhnen und das quietschen des Bettes ihrer Nachbarn hatte etwas meditatives und doch unangenehmes. Es fühlte sich verboten an ihnen zuzuhören aber sie ließen ihr keine andere Wahl.
Das junge Pärchen war vor zwei Monaten frisch eingezogen und verbrachte die Nächte meist feiernd in irgendwelchen Clubs.
Manchmal kamen sie morgends zu dritt heim. Die dritte Person verließ meist am frühen Nachmittag wieder die Wohnung. Meistens war es ein Mädchen, nein, es war immer ein Mädchen denn er war ein Macho. Er sah gut aus, das wusste er.
Loraine fand ihn einfach nur wiederwärtig. Er war einer dieser Typen die immer das bekamen was sie wollten und wenn sie es nicht bekamen dann nahmen sie es sich. Seine Freundin machte zwar einen selbstbestimmten Eindruck aber man sah ihr schon von weitem an, dass sie sich ihm unterordnete, es aber nicht zugab.
Als Loraine vor 3 Wochen den Müll in den Innenhof brachte wurde sie von ihm angesprochen.
Er hatte große kräftige Hände und griff nach einem ihrer Müllsäcke um ihr zu helfen. Sie riss ihm den Müllsack wieder aus der Hand und lief kommentarlos an ihm vorbei. Seit diesem Tag ignorierte er sie. Das war genau das was sie wollte.
Noch immer lag die auf ihrer Matratze. Die einst angenehme kühle Luft in ihrem Zimmer wurde von Minute zu Minute kälter und ging langsam in klirrende Kälte über und so griff sie nach der Decke am unteren Ende ihrer Matratze. Es war ein wohltuendes Gefühl als sich langsam ihr Körperwärme unter der Decke an sammelte.

Noch immer war sie Anfang Zwanzig. Ihre Hände waren Rau. Im Innenhof fauchte eine Katze woraufhin kurz danach mehrere Glasflaschen auf den harten Betonboden zersprangen. Loraine stand auf und schloss das Fenster. Die Dielen waren alt und so hörte sich jeder Schritt an als würde ein Riese mit seinen Zähnen knirschen.
Dann, endlich Stille. Nein, es war keine Stille aber es war das, was man Stille nannte, wenn man nichts anderes gewohnt war als das Leben in einer Großstadt.
Irgendwann war es 3 Uhr nachts. Loraine war kurz vor dem Einschlafen als plötzlich, wie in einem schlechten Horrorfilm, über ihr die alte Dame anfing Klavier zu spielen.

Sie lebte schon seit 2 Jahren in der Wohnung und noch nie hatte sie die alte Dame in der Nacht Klavier spielen gehört. Noch nie hatte sie, außer während dem Unterricht, allein ein anderes Stück gespielt außer jenes welches sie einst für ihre Hochzeit schrieb. Bis zu dieser Nacht. Dieses Lied war anders. Es war nicht mit Trauer gefüllt. Besser gesagt wurde es nicht mit Trauer gespielt. Zwischen den Noten war eine fröhlich, anmutende Melancholie versteckt.
So schön es auch klang, Loraine wollte schlafen. Sie stand auf, knipste das Licht an und zog sich den Morgenmantel über. Der Riese knirschte mit seinen Zähnen während sie durch die Türe lief, die schmale Treppe hinauf, direkt vor die Wohnung der alten Dame. Sie hatte schon ihre Hand zu einer Faust geballt um an die Tür zu hämmern, doch genau in diesem Moment, in welchem sie ausholte, verstummten die dumpfen Töne. Womöglich hatte die Dame den zähneknirschenden Riesen gehört und sich wieder schlafen gelegt. Loraine rückte ihren Morgenmantel zurecht, lief zusammen mit den zähneknirschenden Riesen in die Wohnung und legte sich wieder schlafen.

Irgendwann wachte sie wieder auf. Sie war noch immer Anfang zwanzig, die Hände Rau, das Fenster war geschlossen. Der Morgenmantel lag neben der Matratze. Die Sonne stand hoch am Himmel. Es war Wochenende und sie freute sich schon darauf zusammen mit ihren Freunden in den Park zu gehen.
Es klingelte. Sie zog sich den Morgenmantel über, öffnete das Fenster um die stickige Luft zu beseitigen und lief zusammen mit dem zähneknirschenden Riesen zur Tür.
Es waren zwei Mitarbeiter einer Spedition die ausversehen die Klingel betätigt hatten als sie gerade dabei waren ein sperriges Klavier die Treppe hinunter zu tragen.
Die Beine fehlten, sowie der obere Flügel und ein Teil des Rumpfes. Anders wäre es garnicht möglich gewesen dieses Ungetüm aus der Wohnung zu bekommen. Noch nie hatte sie den Riesen so laut mit seinen Zähnen knirschen hören.
Die Mitarbeiter der Spedition entschuldigten sich und stellten das Klavier kurz auf den alten Diehlen ab um zu verschnaufen.
Der jüngere von beiden fragte sie spaßeshalber ob sie denn zufällig Interesse an diesem Stück Holz hätte, es sei Teil des Nachlasses der älteren Frau darüber und jetzt ohne Besitzer. Loraine runzelte die Stirn.
„Nachlass ? Wieso Nachlass ?“ Beide schauten sie verstört an, so als hätte Loraine die letzten paar Jahre hinterm Mond gelebt.  Sie wischten sich den Schweiß von der Stirn.
„Von der alten Dame über ihnen. Sie ist vor etwa einer Woche verstorben. Haben sie das etwa nicht mitbekommen ?“ antwortete der ältere während sie beide wieder nach dem Klavier griffen.
Loraine schloss die Tür und stand noch eine Weile starr in ihrem Flur. Verwirrt, denn gestern hatte sie die alte Dame doch noch spielen gehört.
Loraine war noch immer Anfang zwanzig. Ihre Hände waren Rau und für einen kurzen Moment war es still. So richtig. Selbst für eine Großstadt.

Durch das offene Fenster in ihrem Zimmer flog eine Fliege. Es dauerte zwei Stunden bis sie wieder den Weg nach draußen fand.

The 5th FloorWo Geschichten leben. Entdecke jetzt