Nur die schönen Momente

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Es war kalt in meinem Zimmer. Vielleicht hatte ich auch nur das Gefühl, dass es kalt war. Ich wusste es nicht. Es war mir eigentlich auch egal. Ich hob meinen Blick. In dem Spiegel, der an der Wand stand, sah ich ein blasses Mädchen. War das wirklich ich? Es kam mir alles so surreal vor. Mit zittrigen Händen strich ich den seidenen Stoff von meinem schwarzen Kleid glatt. Heute war an mir alles schwarz. Nicht nur meine Kleider, sondern auch mein Inneres.

Ein Klopfen an meiner Tür, danach die Stimme meiner Mutter: «Sofia, wir müssen los. Die Beerdigung beginnt in einer halben Stunde.» sagte sie, versuchte die Tränen zurückzuhalten. Die Beerdigung. Hallte es im meinem Kopf nach. Noch immer hatte ich es nicht ganz wahrgenommen, obwohl mein Bruder jetzt schon seit drei Tagen nicht mehr unter uns war. Als ich erfahren habe, dass sich mein Bruder vor einen Zug geworfen hatte, habe ich mir so sehr gewünscht, dass es nicht stimmte. Ich habe es mir so lange eingeredet, bis die Lüge für mich zur Wahrheit geworden war. Aber mein Bruder kam nicht zurück. Er war fort.

Ein letztes Mal schaute ich in den grossen Spiegel und ging dann aus meinem Zimmer. Meine Eltern sassen am Küchentisch. Beide mit starrem, fast leblosen Blick. «Ich bin fertig, wir können jetzt gehen.» sagte ich, als keiner Anstalten machte aufzustehen. Wir stiegen ins Auto. Meine Stirn am Fenster, mein Blick verloren in der Ferne. Mein Bruder ist tot. Der Gedanke schwirrte in meinem Kopf während das Auto ratternd über die Strassen fuhr. Wieso er sich umgebracht hat? Ich weiss es nicht genau. In seinem Abschiedsbrief stand nur, dass sein Leben keinen Sinn mehr hatte, dass es eigentlich nie einen Sinn gehabt habe. Ausserdem stand in dem Brief, dass er uns liebte und wir ihm verzeihen müssten. Ich fühlte mich so schlecht, dass mir nie aufgefallen war, dass mein Bruder solche Probleme hatte. Meine Mutter sagte es wäre ihre Schuld, sie hätte es merken müssen. Mein Vater wurde immer wütend wenn sie das sagte. Sie hätte nicht die geringste Schuld, sagte er immer. Mein Vater schrie oft in den letzten Tagen, während meine Mutter weinte. Jeder hatte seine eigene Weise mit der Trauer umzugehen. Ich schwieg einfach.

Der Wagen hielt auf dem Gepflasterten Parkplatz. Durch ein Tor traten wir in den Friedhof ein. Die Kiesel knirschten unter meinen Schuhen. Der Weg kam mir viel länger vor als das letzte Mal, als ich hier langgelaufen bin. Das Grab war mit Blumenkränzen geschmückt und die Verwandten die gekommen waren, standen alle mit gesenktem Kopf um es herum. Der Pfarrer trat heran, und die Beerdigung begann. Viele Tränen flossen an diesem Nachmittag. Die Trauerfeier wurde in der Reformierten Kirche gehalten. Es ist eine grosse und schöne Kirche. Ihr Glockenturm überragte alle anderen Gebäude in der kleinen Altstadt. Überall waren Blumen aufgestellt. Der Gottesdienst zog an mir vorbei. Ich las meine Rede vor, in der ich von meinem Bruder sprach, und wie wichtig er mir war. Wie ich trotz unserer engen Beziehung nichts von seinen Problemen mitbekommen habe und davon, dass Ich ihn niemals vergessen werde. Als ich redete schweifte ich mit den Gedanken davon. Mein Bruder hat Recht. Gibt es überhaupt einen Sinn am Leben? Der Gedanke tauchte plötzlich in meinem Kopf auf.

Die Trauerfeier ging zu Ende und ich sagte meinen Eltern, ich bräuchte Zeit für mich alleine und verlies die Kirche. Leise plätscherte das Wasser aus dem Brunnen, als ich an ihm vorbeiging. Justitia stand beschützend über mir auf einer Steinsäule. Mein Weg führte mich durch eine Gasse auf eine belebtere Strasse. Links und rechts von mir standen alte Gebäude. Das Licht der langsam untergehenden Sonne spiegelte sich in den unzähligen Schaufenstern. Ich hörte Menschen reden und lachen, sah ein altes Ehepaar in einem Strassencafé sitzen. Alle waren glücklich an diesem Tag. Warum sind wir glücklich? Welche Gründe gibt es, dass wir jeden Tag aufs Neue aufstehen und weitermachen? Ich versteh das System unserer Gesellschaft nicht. Stunde für Stunde arbeiten wir, oder gehen zur Schule, während unser Leben an uns vorbeizieht. Desto mehr ich darüber nachdachte, desto weniger Sinn ergab das Ganze.

Ich lief weiter durch das Städtchen, ohne Weg und ohne Ziel. Das Brummen der vorbeifahrenden Bussen, das Gurren der Tauben und die Gespräche der Menschen konnten meine nun immer lauterwerdenden Gedanken nicht übertönen. Das Sonnenlicht bildete zusammen mit den Blättern der alten, knorrigen Bäume ein Schattenspiel am Boden. Sie tanzen hin und her. Als Kind versuchte ich und mein Bruder immer einem der Lichtpunkten zu folgen. Nie hat es länger als zehn Sekunden geklappt. Als ich mein Blick nach rechts wandte, sah ich den Brezelstand. Ein kleines Mädchen kaufte gerade zusammen mit ihrer Grossmutter ein Eis. Wie oft wir dort etwas gekauft haben. Mein Bruder liebte die Tomaten-Mozzarella Brezel. Wir haben uns danach immer auf den Rand des Brunnens gesetzt, der weiter vorne in der Strasse stand.

Ich bog links ab in eine Seitengasse. Wieso leben wir immer weiter? Haben wir ein Ziel? Oder ist es einfach ein Instinkt? Vielleicht leben wir nur, weil wir uns vor dem Tod fürchten. Doch eigentlich ist der Tod nichts Schlimmes. Wenn man tot ist, muss man die ganzen Probleme nicht mehr ertragen. Dann ist alles still und friedlich. Immer mehr verlor ich mich in meinen Gedanken. Und immer noch lief ich durch die Gassen, während es langsam dunkler wurde. Nach einer Zeit erblickte ich die weissen Mauern der Kirche wieder. Niemand war mehr dort. Ich setzte mich auf die Mauer die neben der Kirche war. Mit meinen Fingern fuhr ich über die Rillen des kalten Steines.

Du hast diesen Weg gewählt, Tom. Du hast es erkannt. Du wusstest, dass es keinen Sinn ergibt. Vielleicht sollte ich ihn auch wählen. Vielleicht sollte ich mir auch das Leben nehmen. Ich erschrak ab meinen eigenen Gedanken. Nein! Es muss irgendwas geben, irgendeinen Sinn hinter all dem. Ich schaute hoch. Unter mir lagen die letzten Häuser der Stadt. Danach kam die Stadtmauer. Die letzten Sonnenstrahlen kitzelten auf meiner Haut. Ein leichter Dunst war aufgekommen und liess die Ebene, die vor mir lag, geheimnisvoll aussehen. Durch das Licht der untergehenden Sonne leuchtete alles in einem gelb-orangen Ton. Eine angenehme, kühle Brise fuhr durch meine Haare. Die Landschaft die vor mir lag, war so wunderschön, so vollkommen und plötzlich spürte ich ein Gefühl von Frieden in mir.

Vielleicht braucht man keinen Sinn um zu leben. Vielleicht lebt man, weil es auch schöne Momente gibt. Momente in denen man einfach zufrieden ist.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Oct 05, 2019 ⏰

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