Familie

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Nachdem sich meine Eltern getrennt haben, bin ich bei meinem Kindheitsfreund eingezogen. Mein Vater hat uns verlassen und meine Mutter hat erneut geheiratet. Sie wollte mich nicht, aber ich versteh mich auch nicht wirklich mit meinem Stiefvater. Umso dankbarer bin ich Matthew dafür, dass er mich aufgenommen hat. Genauso wie seiner Familie. Es ist so schön etwas zu unternehmen und das Gefühl zu haben irgendwo dazu zu gehören. Das alles ist zehn Jahre her und dieses Jahr, zu meinem 16 Geburtstag versucht Matthew alles, dass ich mich mit meiner Familie auseinander setze.

"Ich bin wieder zu Hause", rufe ich und lasse die Tür hinter mir ins Schloss fallen. "Oh Yuri. Wo ist Matthew hattet ihr nicht zusammen Unterricht?", fragt seine Mutter. "Er hatte noch was vor", antworte ich. Seine Mutter geht nachdenklich in die Küche. "Bin in meinem Zimmer", rufe ich und fange mit den Hausaufgaben an. Mal wieder ein riesen Berg und von Tag zu Tag werden sie schwieriger. Das Schule immer so anstrengend sein muss. Seufzend beginne ich.

"Yuri! Abendessen ist fertig!", ruft Matthew's Mutter. "Ich komme", erwidere ich. Wir sitzen zu zweit am Tisch und unterhalten uns. Selbst nach so langer Zeit fällt es mir immer noch schwer sie anzusprechen. Immer wieder sagt sie mir, dass ich sie "Mum" nennen soll, so wie Matthew, aber mir fällt das alles so schwer. Wir sind nicht einmal blutsverwandt und ich wohne einfach bei ihnen.

"Ich bin wieder zu Hause", ruft Matthew. Mit viel Krach kommt er ins Esszimmer. "Das Essen ist fast kalt", sagt seine Mutter und deckt den Tisch für ihn. Stumm setzt er sich neben mich und fängt an zu essen. "Willkommen zurück", sage ich leise und selbst nach zehn Jahren macht der Satz mich noch überglücklich.

Nachdem ich geduscht habe, kommt Matthew in mein Zimmer. "Was gibt's?", frage ich. Er setzt sich vor mein bett und starrt auf meinen Kalender. Am Rand sind überall kleine Cupcakes und Pandas, was mir etwas peinlich ist, aber ich liebe süße Sachen. "Nächste Woche is dein Geburtstag...", er schafft es den Satz so zu formulieren, dass es schon fast wie eine Frage klingt. Etwas unsicher sehe ich ihn an. Unsicher was ich antworten sollte, entscheide ich mich dazu einfach stumm zu bleiben. "Sag mal..., wollen wir an dem Tag etwas zusammen unternehmen?", fragt er etwas zögernd. Er ist leicht rot im Gesicht, weshalb ich mir mein Grinsen nicht verkneifen kann. "Ich freu mich schon", sage ich, um die Stille zu unterbrechen. Aber eigentlich hat es das nur noch schlimmer gemacht. Matthew sitzt immer noch da und sagt kein Wort, aber er sieht aus, als würde er über etwas sehr ernstes nachdenken. "Ich muss noch Hausaufgaben machen, musst du nicht duschen gehen?", frage ich und unterbreche seinen Gedankengang. Irgendwie muss ich ihn ja aus meinem Zimmer bekommen, bevor es alles noch schlimmer wird. Er steht auf. "Hast Recht", sagt er nur kurz und verlässt mein Zimmer. Er lässt mich alleine mit meinem rasenden Herz und meinen roten Wangen zurück. Erleichtert atme ich auf und wende mich wieder meinen Hausaufgaben zu.

Gegen 22 Uhr gehe ich ins Bett. Mein Blick fällt noch ein letztes Mal auf den Kalender, auf den roten Kreis, der den Montag umrandet. "Nur noch drei Tage" flüstere ich aufgeregt und mache das Licht aus.

Morgens werde ich durch den Geruch von frisch gebackenen Brötchen geweckt. Das Sonnenlicht scheint bereits durch den Rolladen und übersät mein Zimmer mit Lichtpunkten. Verschlafen taumel ich ins Bad und wasche mein Gesicht. Danach gehe ich langsam ins Esszimmer. "Morgen", murmel ich und reibe mir die Augen. Ich setze mich auf meine nackten, kalten Füße. "Du musst doch Socken anziehen, sonst erkältest du dich noch so kurz vor deinem Geburtstag", sagt Matthews Mutter besorgt. "Ok, Mum", sage ich und esse. Bis mir auffällt, was ich gesagt hab. Matthew sieht mich überrascht an und seine Mutter hat Tränen in den Augen. Die Stille wird unangenehm. Sein Vater unterbricht die Stille und rettet mich: "Guten Morgen!" Er klingt genauso munter wie immer. Niemand antwortet. "Freust du dich auf deinen Geburtstag? ", fragt er und versucht eine Unterhaltung anzufangen. Er setzt sich mit seinem Kaffee an den Tisch und ich nicke mit einem Lächeln. "Was wünschst du dir eigentlich?", fragt Matthew. Alle sehen mich neugierig an, aber ich zucke nur mit den Schultern. "Vielleicht irgendetwas süßes? ", sage ich unsicher. Alle sehen mich etwas verwirrt und ratlos an, aber das hält nich lange an.

Vormittags gehen alle aus dem Haus. Matthew trifft sich mit Freunden und seine Eltern gehen einkaufen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie ein Geschenk suchen, will aber nichts sagen. "Pass bitte aufs Haus auf", haben sie zu mir gesagt, als sie gegangen sind. Alle kommen erst abends wieder und Sonntags reden sie kaum ein Wort mit mir. Nach dem Abendessen darf ich mein Zimmer nicht einmal verlassen, aber nach zehn Jahren hab ich mich dran gewöhnt. Sie lieben es Überraschungen zu machen. Weil ich nichts mehr zu tun habe, schlafe ich relativ früh ein. Eigentlich wenn man so drüber nachdenkt schon traurig, so sein Wochenende zu verbringen.

Montagmorgen weckt mich das schrille Piepen meines Weckers. Heute ist mein Geburtstag. Total aufgeregt ziehe ich mir die zurecht gelegten Klamotten an. Draußen höre ich bereits Stimmen. Als ich meine Zimmertür öffne, fangen sie an "Happy Birthday" zu singen. Der Raum ist ziemlich dunkel und neben den dreien stehen 16 Kerzen. Ich kann mein Lächeln nicht mehr verstecken. Matthew lächelt mich an und umarmt mich, wie seine Eltern mit einem: "Happy birthday". Danach reichen mir seine Eltern zwei Geschenke. "Weil du inzwischen für uns schon zur Familie dazu gehörst", sagt sein Vater. "Vielleicht wird sie ja mal wirklich Familie", flüstert seine Mutter leise und sieht Matthew an. Er bekommt es nicht mal mit, aber ich merke wie mir das Blut in die Wangen schießt und sie rot werden. "Danke, Mum, Dad", sage ich und umarme beide. Sie hat er erneut Tränen in den Augen und "Dad" tröstet sie. "Komm wir gehen", sagt Matthew und zieht mich am Handgelenk.

Nach der Schule gehen wir zusammen in die Stadt. Matthew lässt meine Hand keine Sekunde los. Er bleibt vor einem Café stehen. "Ich glaube du solltest da rein gehen", sagt er. "Wieso?", frage ich und sehe durch die Glasscheibe. Meine Mutter sitzt an einem der Tische und sieht nachdenklich auf den Tisch. "Ich bin in der Nähe, wenn was ist", sagt er und lässt meine Hand los. Noch unsicher drücke ich gegen die Tür und setze mich vor meine Mutter. Als ich mich umdrehe, steht Matthew nicht mehr am Fenster. "Über was willst du reden?", fragt sie kalt. Sie sieht mich nicht einmal an. Unsicher was ich sagen soll, bleibe ich stumm. "Ich dachte du wolltest mit mir reden ist irgendwas besonderes", fragt sie genervt und sieht mich an. In ihrer Augen sehe ich nur Hass. "Machst du mich dafür verantwortlich das Vater weggeangen ist?", frage ich, nachdem ich endlich meinen Mut gefunden habe etwas zu sagen, aber sie gibt mir keine Antwort. Plötzlich kommt ihr Mann rein. Mein Stiefvater. Er sieht mich herablassend an und legt meiner Mutter die Hand auf die Schulter. "Wenn du nichts dagegen hast, würden wir gerne nichts mehr mit dir zu tun haben. Schließlich hast du ihr Leben zerstört", sagt er mit einem bösen Blick und geht mit meiner Mutter weg. Ich stehe auf. Mir fallen die Tränen aus den Augen und ich kann sie nicht stoppen. "Kannst du dich noch dran erinnern? Heute ist mein Geburtstag. Der Geburtstag DEINER Tochter!", sage ich aufgebracht. "Ich habe keine Tochter". Sie dreht sich nicht einmal zu mir um. Mir laufen die Tränen das Gesicht runter. Eine nach der anderen tropft auf meinen Schal.

Ich gehe nach draußen und laufe eine Weile, bis ich eine Bank finde und mich fallen lasse. Die Worte meiner Mutter sind mir immer noch nicht klar. Ich stütze meine Arme auf meinen Beinen ab und vergrabe mein Gesicht in meinen Händen. Ich kann nicht aufhören zu weinen. "Hier bist du", sagt Matthew. Er setzt sich neben mich. "Es tut mir leid", sagt er und legt seinen Arm auf meinen Rücken. Er ist so warm. "Hast du gehört, was sie gesagt hat?", frage ich. Er verstummt. Die Antwort ist mir klar. "Komm", sagt er und zieht mich am Handgelenk hoch. Die Abenddämmerung bricht an und das rote Sonnenlicht fällt auf den Vergnügungspark. Er zieht mich mitten rein und läuft weiter zum Riesenrad. Als wir in der Gondel sitzen atmet er erleichtert auf. "Das war knapp", sagt er. "Was?", frage ich und sehe ihn an. Die Gondel bleibt etwas seitlich stehen. Wir sind fast ganz oben. Er setzt sich neben mich und die Gondel wackelt etwas. Von hier oben kann man so weit raus auf die Stadt sehen. "Das", antwortet er und zeigt über die Stadt. Ich sehe die Funken einer Rakete. Das Feuerwerk hat begonnen und wir sehen es von weit oben. Matthew nimmt meine Hand und lächelt mich an. "Egal was deine Familie sagt, bei uns bist du immer willkommen. Wir sind deine Familie", sagt er. Ich bin ihm für so vieles so dankbar, vor allem dafür. Meine Wangen werden rot und ich flüstere ein leises: "Danke". Er küsst mich sanft und legt seinen Kopf auf meine Schulter.

"Für immer eine Familie", sagt er.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Nov 02, 2014 ⏰

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