alles okay

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„Kira, ist alles in Ordnung?“
Die freundliche Stimme meines Lehrers reißt mich aus meinen Gedanken und damit zurück in die Realität, die sich gerade in dem stickigen Klassenzimmer meiner Schule abspielt. Genauer gesagt im Englischunterricht, in dem ich gerade einen Text schreiben sollte. Einfach nur die Gedanken zu der Person, die wir auf dem Bild vor uns sehen. Auf meinem ist ein schmales Mädchen mit dünnem, langem Haar abgebildet, welches die Hälfte ihres blassen Gesichts bedeckt. Sie sitzt zusammengesunken auf einem altaussehenden Stuhl und durch das danebenliegende Fenster, welches vor Dreck nur so starrt, fällt stumpfes Licht auf ihren Körper. Der Blick ist ins Leere gerichtet, ihre Hände halten sich krampfhaft an der zerkratzten Sitzfläche fest, so, als würde sie verzweifelt nach Halt suchen. Nach einem sicheren Ort inmitten des Stresses und dem Chaos, das sie umgibt.
Mir sind sofort Gedanken dazu eingefallen, aber bis jetzt habe ich es nicht geschafft, sie zu Papier zu bringen. Etwas, das mir normalerweise nie passiert, vor allem in Englisch arbeite ich eigentlich immer mit. Aber seit ein paar Tagen ist alles anders. Ich weiß nicht, wann genau es gekommen ist, erst hatte ich einfach nur schlechte Laune, dann immer weniger Motivation und schließlich gar keine Lust mehr, schon gar nicht auf Schule. Das Problem an der Sache: Es gibt keinen Auslöser dafür. Ich habe absolut keine Ahnung, warum ich auf einmal so … lustlos und leer bin.
Deshalb straffe ich eilig meine Schultern und setze ein Lächeln auf: „Ja klar, alles gut.“, und beeile mich, wenigstens ein paar Sätze auf das noch leere Blatt vor mir zu schreiben. Schnell wird mir klar, dass es weder Anfang noch Ende hat und überhaupt keinen Sinn ergibt, aber ich kann es mir nicht leisten, durch fehlende Leistungen noch weiter aufzufallen.
Es ist leider nicht das erste Mal, dass ich von jemandem, explizit einem Lehrer, gefragt werde, ob alles in Ordnung ist. Und daraus soll sich auf keinen Fall ein Muster ergeben, schließlich ist ja eigentlich alles okay. Oder zumindest sollte das so sein.
Für die restlichen dreißig Minuten schaffe ich es, mich ein wenig mehr zu konzentrieren und etwas zum Unterricht beizutragen, auch wenn es nicht viel ist. Herr Koch scheint sich nicht weiter für mich und meine geistige Abwesenheit zu interessieren, was ein Gefühl der Erleichterung in mir auslöst. Nur nicht auffallen, es ist alles gut.
Falsch gedacht, denn als ich endlich das langersehnte Ende der Stunde erreicht habe, höre ich plötzlich meinen Namen: „Kira, kannst du bitte noch kurz hierbleiben?“, fragt Herr Koch mich und ein besorgter Blick erreicht meinen. Mist, jetzt bloß nichts Falsches sagen. „Klar, habe ich etwas falsch gemacht?“, frage ich deshalb und tue ahnungslos. Herr Koch sieht allerdings kein Problem darin, mich direkt darauf anzusprechen: „Ich habe das Gefühl, dass du heute gar nicht richtig anwesend warst, das war in den letzten Stunden auch schon so. Ist wirklich alles in Ordnung? Du weißt, dass du dich jeder Zeit an mich oder die Verbindungslehrer wenden kannst.“ Mein Mund ist augenblicklich wie leergefegt, ich schaffe es gerade so, zu nicken. Ich schätze meinen Englischlehrer wirklich, ich mag ihn wahrscheinlich sogar am meisten von allen, aber es gibt nun mal nichts, über was ich reden könnte.
Seinem Blick nach scheint er mir aber nicht zu glauben, also muss doch reden her: „Es ist alles okay, wirklich. Ich bin einfach ein bisschen müde, aber das legt sich sicher wieder.“
Dass ich müde bin, stimmt wirklich. Ich habe in der letzten Nacht allerdings zehn Sunden geschlafen, weshalb ich absolut nicht weiß, woran das liegen könnte. Aber egal, damit komme ich an einer Lüge oder so vorbei, denn Herr Koch scheint mir endlich zu glauben: „Das kann natürlich auch sein, verzeihe mir. Aber dann bitte mehr schlafen, ich will, dass du wieder so gut mitmachst wie sonst auch, einverstanden?“
Wieder ein falsches Lächeln, wieder eine überzeugte Stimme aufsetzen: „Ja klar, werde ich machen!“
Bloß, dass noch mehr schlafen nicht drin ist. Das Schuljahr hat zwar gerade erst angefangen, aber lernen und Hausaufgaben nehmen jetzt schon Unmengen an Zeit ein. Vielleicht liegt es auch daran, dass ich keine Lust habe, aber normalerweise geht es mir so, wenn ich mitten in der Klausurenphase stecke und nicht noch ganz am Anfang. Naja, es ist …
„Hey Kira, da bist du ja! Was wollte der Koch denn noch von dir?“, werde ich zum xten Mal an diesem Morgen aus meinen Gedanken gerissen. Diesmal von meiner besten Freundin Camilla, die wie immer ein breites Lachen auf den Lippen trägt. Dafür bewundere ich sie echt, Camilla hat wirklich nie schlechte Laune, und wenn, sieht sie immer noch das Gute darin.
Sowas kann ich ja mal gar nicht, aber jetzt habe ich genau so wenig Zeit, schon wieder in einen Strudel gezogen zu werden. Mist, warum kann ich denn nicht mehr bei der Sache bleiben? Camilla schaut mich bereits irritiert an, weshalb ich schnell nach einer plausiblen Ausrede suche, sie muss nicht auch noch etwas mit dem Ganzen zu tun haben: „Ach nichts wichtiges, nur wegen so nem Referat, dass wir ja bald schon halten müssen. Er wollte noch was wegen dem Thema wissen.“
Sie zuckt mit den Schultern: „Ach so, über das habe ich mir noch gar keine Gedanken gemacht, ups.“
Die restliche Pause verbringen wir damit, über alles Mögliche zu reden, und zum ersten Mal an diesem Tag kann ich lachen und verschwinde nicht sofort wieder in meiner eigenen Welt. Sie erzählt mir von den neuestens News was Paare aus unserer Stufe angeht und ich berichte ihr von dem Lockenstab Fail, der mir gestern in einem Anflug von „Meine Haare sehen scheiße aus“ passiert ist.
Okay wow, Camilla schafft es echt immer mich aufzuheitern, ohne überhaupt zu wissen, dass sie es tut. Am liebsten würde ich es ihr sagen, aber die Worte bleiben mir im Hals stecken. Verdammt, ich hasse es, dass ich nicht einfach das sagen kann, was ich denke. Und natürlich ist das in den letzten Tagen noch schlimmer geworden, deshalb sitze ich jetzt vor meinem Ordner im Mathe Unterricht, ohne es ihr gesagt zu haben. Da sie jetzt einen anderen Kurs hat, habe ich auch keine Möglichkeit mehr dazu und sitze nun stumm neben einer weiteren Freundin, beteilige mich jedoch nicht an dem Gespräch, dass sie mit ihrem Kumpel führt. Es ist für mich schon fast unmöglich, ihr länger als ein paar Sekunden zuzuhören, mein Kopf schaltet automatisch ab und meine Gedanken begeben sich aus unerklärlichen Gründen auf eine Reise in die Tiefe.
Das ist auch der Grund, warum ich am Ende der Stunde nicht einmal ansatzweise weiß, was wir durchgenommen haben. Und damit einer weiteren Lehrerin zum Opfer geworden bin.

in the endWo Geschichten leben. Entdecke jetzt