Sie dreht sich im Kreis, schneller und schneller. Ihre Haare hat sie zu einem strengen Dutt hoch gebunden, aus dem sich bereits einige dunkle Haarsträhnen gelöst haben. Sie ist nur bekleidet mit einem Rock und einem Pullover, die Füße stecken in hübschen rosa Tanzschuhen, die mit silbernen Perlen bestickt sind. Ihr Gesicht ist blass, es wirkt eingefallen, die Augen sind geschlossen. Es ist kalt, über Nacht ist der erste Schnee dieses Jahres gefallen.
In Gedanken ist die junge Frau ganz woanders, sie denkt an den letzten Tag, an die letzten Wochen, sie denkt an das wunderbare Leben, welches sie hätte haben können. Sie hat noch ganz genau den Moment vor zwei Wochen vor sich, als der Brief gekommen war. Es war ein so bezaubernder Moment gewesen, voller Freude und Glück.
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Weiß und völlig unberechenbar lag der Brief vor ihr auf dem Tisch. Ihre Hände zitterten, als sie den Brief nahm und begutachtete. Eine Weile stand sie dort und zögerte, ihre Mutter hinter ihr, hatte den Atem angehalten. „Mäuschen", sagte sie liebevoll und stieß dabei die ganze angehaltene Luft wieder aus, „soll ich ihn für dich öffnen?" Sie nickte nur und übergab den Brief ihrer Mutter, nervös biss sie sich auf die Unterlippe. Ihre Zukunft stand auf diesem Brief geschrieben, entweder würde sich ihr Lebenstraum erfüllen, oder sie musste irgendwo anders irgendein anderes Leben leben. Sie wusste, irgendwo anders mit irgendeinem anderen Leben würde sie niemals wirklich glücklich werden, da war sie ganz sicher und genau aus diesem Grund war dieser Brief auch von enormer Wichtigkeit. Mit dem Finger schlitzte ihre Mutter den Brief auf und entnahm ein strahlendweißes Blatt Papier, von der anderen Seite konnte die junge Frau die schwarze Schrift nur durchschimmern sehen. „Was steht da?", fragte sie unsicher, ihre Stimme bebte. Ein Lächeln stahl sich auf das Gesicht ihrer Mutter. „Lilian", flüsterte sie, „du hast es geschafft, mein Schatz, du hast es geschafft. Du wurdest angenommen!" Lilian starrte ihre Mutter nur mit großen Augen an, die Worte brauchten einen Moment, bis sie zu ihr durch gedrungen waren und selbst dann wollte sie sie noch immer nicht glauben. „Ich bin...bin angenommen?", hauchte sie und Tränen stiegen in ihre Augen. Wäre das nicht einfach zu schön, um war zu sein? Hatte sie sich vielleicht verhört? Irgendetwas in ihr wehrte sich dagegen, dass ihr wahrhaftig so viel Glück zuteil werden konnte. „Hier steht es geschrieben", die Mutter lachte fröhlich, „Sehr geehrte Frau Lilian Elisabeth Bäumer, wir freuen uns sehr Ihnen mitteilen zu können, dass sie auf der Akademie Windstein, der Akademie der klassischen Tanzkunst angenommen worden sind. Sie werden am Montag, dem 20. Dezember hier erwartet und in Empfang genommen. Mit freundlichen Grüßen, Amber Roosewelt in Vertretung der Akademie. Und hier ist noch ein Stempel und da unten das Datum. Ach Schätzchen..." Nun endlich konnte Lilian es glauben, sie war angenommen worden. Sie hatte es geschafft, sie würde ihren Traum leben können. Überglücklich fiel sie ihrer Mutter um den Hals, während die schon wieder ganz in Gedanken vertieft war. „Okay, du brauchst noch einen wärmeren Mantel, neue Schuhe, einen Schal", murmelte sie vor sich hin, doch Lilian lachte nur. „Ach Mum, ich habe doch alles, was ich brauche", sie musste schmunzeln. „Es ist kalt dort im Norden", erwiderte ihre Mutter nur, musste dann aber auch lächeln. „Okay, wir haben noch eine gute Woche Zeit, um das Wichtigste zu besorgen. Das schaffen wir doch!" „Auf jeden Fall schaffen wir das", Lilian umarmte ihre Mutter noch einmal.
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Lilian weint, sie steht noch immer mit geschlossenen Augen im Schnee, hat aufgehört sich zu drehen, steht nur da. Tränen laufen ihre Wangen hinunter, kein Laut entweicht ihren fest verschlossenen Lippen, die von der Kälte bläulich schimmern. Bei ihrem Anblick möchte man ihr zurufen, sie solle sich etwas wärmeres anziehen, oder einfach nach Hause gehen. Immer noch fallen dicke weiße Schneeflocken vom hellgrauen Himmel und landen geräuschlos auf dem Waldboden. Unter dem Gewicht des Schnees neigen sich die Büsche dem Boden zu. Und schließlich kann das Mädchen sich nicht mehr halten, sie sinkt zu Boden, den Kopf weich in den Schnee gebettet. Nun endlich öffnet sie ihre Augen, starrt in das eisige Schneetreiben, ihre blassblauen Augen wirken völlig ausdruckslos, doch noch immer laufen Tränen seitlich an ihrem Kopf herab und landen im Schnee, wo sie kleine Löcher hinterlassen. Eine ganze Weile liegt Lilian so da, eine hauchdünne Schneeschicht hat sich auf ihrem zarten Körper abgesetzt. Und weiterhin ist das Mädchen in Erinnerungen vertieft, sie denkt an den wunderbaren Moment zurück, als sie endlich an der Akademie ankam.
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Schneetänzerin
Short StoryEigentlich hat Lilian erreicht, was sie immer erreichen wollte. Sie wurde bei der Balletakademie ihrer Träume angenommen. Bald schon ereilt sie ein schwerer Schicksalsschlag. Wie geht sie damit um?