Ashura setze sich mit dem Rücken am Tor auf den Boden. Unter großen Schmerzen gelang es ihm ein Eillicht zu entzünden, was ihm ein geringes Maß an Helligkeit spendete. Sein linker Ärmel war zerfetzt und mit Blut durchtränkt, weshalb er ihn einfach abriss und sich im Zwiellicht des Eillichtes die Wunde ansah. Der Schnitt verlief fast über seinen ganzen Oberarm und reichte tief. Er verband ihn mit dem abgerissenen Stoff so gut er nur konnte; Wenn jedoch nicht bald ein Arzt die Wunde versorgen würde, könnte er Wundbrand kriegen, was im schlimmsten Fall bedeutete, dass man ihm seinen Arm abnehmen müsste. Sein Eillicht war fast abgebrannt. Draußen hörte er noch die Wachen, die nach ihm suchten, deren Schritte manchmal gefährlich nah kamen, bevor sie sich dann doch wieder entfernten. Nachdem er ein zweites Eillicht entzündet hatte, begann er sich in der Halle umzusehen. Das, was er zuvor für ein Warenlager gehalten hatte, erwies sich als schon lange nicht mehr benutzt. Er konnte erkennen, dass es wohl früher Teil eines größeren Gebäudes gewesen sein musste, doch dann hatte man es mit einer Wand abgetrennt und wohl vergessen. Der Raum war so gut wie leer: Einige Kisten verstaubten in der muffigen Dunkelheit und in der hinteren Ecke waren Schemel achtlos auf einen Haufen geworfen worden. Ashura erhob sich langsam, das Eillicht am unteren Teil des Dochtes haltend, und hinkte auf die Schemel zu. Er zog den erstbesten heraus und stellte ihn auf, bevor er sich zu den Kisten begab und anfing, sie zu durchsuchen. Die meisten waren leer und in den anderen war nur wenig Brauchbares zu finden. Zu seinem Glück fand er ein paar Kerzenstummel, welche er an sich nahm, da Kerzen aus Wachs eine sehr teure Angelegenheit waren, weshalb Leute wie er sich mit Eillichtern begnügen mussten, welche billig herzustellen waren, aber nur über kurze Zeiträume brannten. Ashura hinkte zu dem Schemel zurück und zündete einen der Kerzenstummel an, welcher ihm weit mehr Licht spendete. Sitzend begann er langsam seine Pistolen nachzuladen, wobei ihm die Kiste als Tisch diente. Als er fertig war, schätzte er, dass bereits die späte Mittagsstunde angebrochen war. Nicht mehr lange und er würde sich im Schutz der Nacht wieder hervorwagen können. Vielen Leuten machte die Dunkelheit Angst, doch Ashura mochte die Nacht. Sie war seine treueste Verbündete und hatte ihm schon oft das Leben gerettet.
Ashura schlug die Augen auf. Die Kerze war schon lange abgebrannt. Verdammt, ich muss eingeschlafen sein! Die Nacht war lange hereingebrochen und er hatte nicht mehr so viel Zeit, wie ihm lieb war. Er testete sein Bein vorsichtig aus und war mit dem Ergebnis zufrieden; Der scharfe Schmerz, den er vorher gespürt hatte, war zu einem dumpfen Pochen abgeklungen. Als Ashura jedoch aufstand, musste er sich sofort wieder setzen. Der Hunger und der Blutverlust ließen ihn stärker schwindeln, als Alkohol es zu tun vermocht hätte. Zähneknischend zwang er sich erneut aufzustehen. Sein Schiff lag an einem der Kais Rothenburgs und nur dort wäre er wirklich sicher.
So leise wie er nur konnte schob Ashura das Tor auf, schlüpfte hindurch sobald der Spalt groß genug war und schloss es wieder hinter sich. Dann machte er sich, noch immer leicht hinkend und mit der rechten Hand an der Wand abstützend, zu den Kais auf, wo sein Schiff lag. Also, an sich war es nicht sein Eigentum, aber es befand sich mehr oder weniger rechtmäßig in seinem Besitz. Wie erwartet waren die Wege und Straßen Rothenburgs um diese Stunde menschenleer und er war sich sicher, dass er den Weg zum Schiff unentdeckt hinter sich bringen würde. Die Kerzenmachermachergilde Rothenburgs war gründlich gewesen und sogar in den engen, nahezu bedeutungslosen Nebengassen, wie Ashura sie beging, brannte Licht in den wenigen Lampen, die sie erhellten. Wachskerzen wären für solch einen gewaltigen Bedarf viel zu teuer gewesen und wahrscheinlich gestohlen worden, weshalb die Gilde Kerzen aus zusammengebundenen Binsenhalmen herstellte, die wie Eillichter in Fett getaucht wurden. An der Größe der Binsenkerze konnte man erkennen, wie viel Zeit bereits vergangen war, da sie jede Nacht zur selben Zeit in die Laternen gesteckt wurden und bis zum Morgen abgebrannt wären. Die Kerzen, die er sah, waren bereits zu zwei Dritteln verbraucht, was bedeutete, dass das Morgengrauen in nicht mehr allzu weiter Zukunft lag; Er musste sich beeilen. Ashura hinkte weiter, sein Atem ging schwer hinter seinen zusammengepressten Zähnen und der Schweiß begann ihm in Perlen auf der Stirn zu stehen. Langsam aber sicher kam er seinem Ziel näher, wofür er stets die verwinkelten Gassen zwischen den Häuserfluchten nutzte und die breiten Straßen mied, da man sicherlich noch immer nach ihm suchte. Außer Nachtwächtern und unlauten Gestalten wie ihn, war um diese fortgeschrittene Stunde niemand mehr auf den Wegen Rothenburgs unterwegs. Es war recht kühl für eine Nacht im Spätsommer; Der Herbst begann sich langsam anzukündigen. Bis dahin wollte er für sich und sein Schiff einen sicheren Hafen gefunden haben, da die Herbststürme das Navigieren auf See zu einer mörderischen Herausforderung machten. Wenn er in Rothenburg bleiben wollen würde, müsste er sich bis zum Frühling bedeckt halten. Es wäre wohl am besten, dachte er, wenn ich das Schiff über diese Zeit nicht verließe. Die Alternative wäre, Rothenburg zu verlassen und es weiter im Landesinneren in Ludgersmund zu versuchen. Doch letztenendes würden sicherlich auch dort seine Steckbriefe hängen und er müsste ebenfalls untertauchen. Göran würde ihn wohl bis an sein Lebensende verfolgen.
Ashura war so in Gedanken vertieft, dass er die Gestalt, die ihm seit der Lagerhalle gefolgt war, nicht bemerkt hatte. Wie ein Geist trat sie aus dem Schatten hervor und baute sich drohend vor ihm auf. "Kapitän Ashura." Er erschrak, wie er sich kaum zuvor erschrocken hatte, machte einen Satz nach hinten und fiel rücklings auf das Pflaster. "Wenn ich mir das so ansehe, könnte man meinen, deine Verletzungen stammten aus deiner eigenen Tolpatschigkeit.", sagte der Mann mit klarer Stimme und einer hörbaren Mischung aus Hohn und Belustigung, wobei der Spott klar überwog. Ashuras Lähmung verflog, als er nach einer seiner Pistole griff und sie auf den Schemen richtete . "Ach Ashura", sagte die Gestalt missbilligend:" Ihr müsst noch lernen, dass sich nicht jedes eurer Probleme mit Blei und Feuer zu lösen vermag." "Das mag zwar sein", antwortete er:" aber bei den meisten Problemen funktioniert es." Er betätigte den Abzug. Blitz und Qualm erfüllten die Gasse, als die Gestalt nach hinten umkippte und noch vor dem Verhallen des Knalls leblos auf den kalten Steinen Rothenburgs lag.
Zumindest hätte das passieren sollen. Stattdessen passierte nichts. Kein Lichtblitz, kein Knall, kein gelöstes Problem. Lediglich das Steinschloss, dessen Hahn ein paar Funken erzeugte, als es auf die Pfanne mit dem Zundkraut schlug. "Was in Lokis Namen...?" Ashura blickte mit großen Augen von seiner Pistole zurück zu der Gestalt, welche unverändert vor ihm stand. "Mein Lieber, wenn ich einen Mann, der es vermochte 4 Kopfgeldjäger auszuschalten und sich vor der Stadtwache verborgen zu halten, verfolge", der Schatten kniete sich vor ihm hin und er konnte fühlen, wie er ihn unter der Kapuze mit seinem Blick fixierte :" dann stelle ich auch sicher, dass er im Gegensatz zu mir unbewaffnet ist." Ashura ließ die Waffe sinken:" Wie zum...?" "Oh, das war nahezu lachhaft einfach.", erklärte der Mann, ohne sich bis jetzt zu Erkennen zu geben:" Ich habe das Pulver entfernt, als ihr vor Erschöpfung eingeschlafen seid." Ashura stutzte. "Also", fuhr der Schatten fort, während er sich wieder aufrichtete:" wollt ihr nicht erfahren, weshalb ihr nun in dieser für euch äußerst peinlichen Lage seid?" Als er den Satz beendete, schlug er die Kapuze seines Umhangs zurück und entblößte zwei lange, spitz zulaufende Ohren.
Scheiße.
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Ashura
FantasyDer nordmännische Pirat Ashura hat alles verloren und war sein Leben lang auf der Flucht. Und nun, wo eigentlich alles besser werden sollte, steht sein Überleben auf Messers Schneide.