Umarmung

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Es ist Mittwoch. Ich plane, was ich mitnehme. Die Wahl fällt mir nicht allzu schwer - die Gitarre natürlich. Schließlich hat sie mir noch lachend erzählt, wie lustig der Mann am Freitag war. Als die beiden schließlich zusammen ein Trinklied angestimmt hatten, kam, als wäre es geplant gewesen, der nachmittägliche Schnaps. Das war gut für den Magen und das Gemüt. Okay, das hätte ich dann schonmal. Und was noch? Eine Alternative ist schließlich nie verkehrt. Moment, Lena hatte doch da so einen tollen Text, den sie vor vielen Jahren einmal selbst geschrieben hat. Der ist nicht zu kompliziert, handelt von Familie, Liebe und Engeln. Und spielt an Heiligabend. Das ist doch schön. Mit einem ruhigen und zufriedenen Lächeln auf den Lippen, begebe ich mich mit entsprechenden Unterhaltungsmaßnahmen zum Auto und öffne den Kofferraum. Ich bringe einen viel zu langen Schultag hinter mich. Nur meine beste Freundin merkt mir meine Anspannung an, aber das ist vielleicht auch besser so. Ich habe am Telefon mit Papa abgeklärt , dass ich alleine rüber fahre. Ich habe zwar erst seit einer Woche meinen Führerschein, aber ich fühle mich sicher und in der Lage, die halbe Stunde Fahrzeit hinter mich zu bringen. Außerdem kann ich so noch ein wenig abschalten und meine Gute-Laune-Musik ganz laut aufdrehen. Auf dem Weg zum Auto bin ich ruhig und gleichzeitig angespannt. Hoffentlich bin ich vor den anderen da, dann habe ich wenigstens noch ein bisschen Zeit für mich - oder besser gesagt: Für uns. Nachdem die Musik lauthals aus den Boxen wummert, mache ich mich auf in Richtung Autobahn. Die Geschwindigkeitsanzeige steigt immer weiter, fast auf 170 Sachen, dann lasse ich den Wagen ausrollen, da sich die nun schon seit Monaten bestehende Baustelle nähert. Die Zeit während der Fahrt geht überraschenderweise ziemlich schnell vorbei und ich konnte mir den Weg vom letzten Mal besser merken als ich dachte. Ich fahre auf dem Schotterparkplatz ganz nach vorne durch, bis ich in einem Parkplatz im Halbschatten stehe. Nun öffne ich den Kofferraum und überlege einen Moment. Doch dann schalte ich auf einmal den Kopf aus und entscheide mich nicht für meine Leidenschaft, sondern für die Geschichte. Ich mache mich auf den Weg in das grau-weiße, moderne Gebäude. Auf dem Weg treffe ich meinen Vater mit meiner Schwester. Ihm ist die Müdigkeit sichtlich ins Gesicht geschrieben, meine Schwester ist still und wirkt ähnlich konzentriert wie ich. Wir gehen gemeinsam nach oben. Meine Oma sitzt schon im Zimmer. Mit jedem Schritt wird die Luft stickiger und eine ungewohnte Last liegt auf mir. Mein Hals ist trocken, als ich die Klinke runter drücke und vorgehe. Ich achte darauf, den Schock nicht nach außen durchstahlen zu lassen. Wie dünn und schwach sie aussieht. Keiner redet wirklich viel, nur ab und zu ist ein Schluchzen der Erwachsenen zu hören. So vergeht eine gewisse Zeit, eine kostbare Zeit. Irgendwann fasse ich für mich einen Entschluss und bitte die anderen, ob ich einen Moment lang nur Zeit für uns beide haben kann. Mit gedrücktem Lächeln und leisen, langsamen Bewegungen verlassen die drei den Raum, was die seltsame Last auf mir etwas mindert. Ich erzähle, dass ich ihr etwas mitgebracht habe und frage sie, ob ich diese Geschichte vorlesen soll. Sie nickt und gibt einen schwachen, aber bejahenden Laut von sich. Ich setze mich zu ihr auf die Bettkante und beginne zu lesen. Für ein paar Minuten waren wir beide unbeschwert, ich habe die Worte auf meiner Zunge, sie die Worte durch ihre Ohren genossen. Ich lächle, als ich den letzten Satz mit klarer, betonender Stimme vorgelesen habe und frage, ob sie die Geschichte schön findet. Wieder bejaht sie, aber deutlicher, was mir ein Gefühl von Sicherheit gibt und mich bestärkt hat. Ich habe die richtige Entscheidung getroffen. Ich sage ihr anschließend, dass ich sie lieb habe und dass sie die beste Mutter der Welt ist. Ersteres entgegnet sie und ich spüre ein wohliges Gefühl und innere Ruhe. Ich bin zufrieden und gehe kurz darauf nach draußen, um meiner Schwester die Gelegenheit für einen hoffentlich ähnlich schönen Moment zu geben. Nach einigen Minuten, in denen ich definitiv mein Zeitgefühl verloren oder ausgeblendet habe, betreten wir wieder alle gemeinsam den Raum. Der Moment ist gekommen, sich zu verabschieden. Ich umarme sie als erstes und wiederhole, dass ich sie lieb habe. "Mach's gut", hat sie zu mir gesagt. Ich entgegnete: "Du auch!" und denke innerlich: Das werde ich. Versprochen. Innerlich bin ich mit mir selbst und der Situation im Reinen. Es ist alles gesagt. Meiner Schwester hingegen sehe ich das Leid an, das geteilte Leid, dass den kompletten Raum befüllt. Möglichst liebevoll bewege ich sie dazu, sie noch einmal, aber dafür feste zu umarmen, bei den anderen verabschieden wir uns flüchtiger, sie wollen noch bleiben. Ich bin über mich selbst und meine innere Ruhe verwundert - meine Schwester aber weint ohne Ende. Ich nutze auf der Rückfahrt nun doch meine Leidenschaft, indem ich die Musik der hinfahrt nur noch lauter aufdrehe und aus Leibeskräften und eher laut als schön mitsinge. So lange, bis sie lachen muss. "Du schaffst es sogar jetzt, mich zum Lachen zu bringen. Danke." "Klar." Vielleicht war es auch eine Frage - die Verwunderung und die Wertschätzung waren aber deutlich herauszuhören. Und da ich wieder Vollgas gebe, vergeht die Autofahrt wieder wie im Flug. Mir geht es gut. Ich habe alles richtig gemacht. Oder zumindest einmal das Beste aus der Situation. Ich wusste, dass es das letzte mal war, dass ich sie lebend gesehen habe.

"Wenn ich gewusst hätte, dass es das letzte Mal war, dann hätte ich dich fester umarmt." Bis heute bin ich froh, dass dieses Zitat nicht meiner Situation entsprach. Ich habe sie fester umarmt. Und ja, Mama, ich mache es gut. Versprochen.


Die Geschichte der kleinen EngelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt