Kapitel 1

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Zitternd blies ich mir in die Finger. Für Ende Oktober war es beschissen kalt. Aber es half nichts, sie brauchte mich ja. Und ich wollte kein Detail aus ihrem Leben verpassen, auch wenn sie nun schon seit Stunden nur auf ihrem Fensterbrett saß und las. Welches Buch es wohl war? Ich schrieb die Frage in meinen dicken Ordner, der beinahe überquoll vor Fotos und losen Blättern. Jeder Tag ihres Lebens seit ihrem vierzehnten Lebensjahr war dort festgehalten, sorgfältig geordnet. Auf zufällig vorbeikommende Passanten musste ich wirken wie ein Student, der sich auch noch in der Nacht auf eine Prüfung vorbereitete. In Wahrheit dachte ich natürlich an sie. Vor wenigen Tagen (genauer gesagt vor 12 Tagen und neun Stunden) wurde sie neunzehn Jahre alt. Sie bekam einige Geschenke und eine schöne, große Geburtstagstorte. Ich wusste exakt, welche Geschenke sie bekommen hatte, da ich in der Nacht die Haustür geknackt hatte und mich in ihr Zimmer geschlichen hatte, ohne dass sie auch nur irgendetwas gemerkt hätte. Bei der Gelegenheit schoss ich auch gleich einige Fotos.

Endlich passierte etwas. Ein junger Mann eilte die Straße hinauf und läutete an der Tür. Würend sah ich zu, wie sie von ihrem Fensterplatz aufsprang. Wie konnte dieser Mann es wagen, sie zu besuchen? Mit einer Umarmung begrüßte sie ihn und zog ihn an der Hand ins Haus. Fieberhaft begann ich in meinem Gedächtnis zu kramen. Hatte ich ihn schon mal gesehen? Oder hatte ich tatsächlich etwas in ihrem Leben versäumt? Nein! Das durfte, das konnte nicht sein! Seitdem ich sie auf einem Konzert gesehen hatte, war ich wie besessen. So oft wie möglich war ich bei ihr, sah sie, machte Fotos von ihr. Vierzehn Stunden am Tag war ich in ihrer Nähe und beschützte sie. Vermutlich klang das, als würde ich stalken, aber das tat ich nicht. Und selbst wenn, wäre das ja nur zu ihrem Besten. Ich bin ja die Liebe ihres Lebens, auch wenn sie davon noch nichts weiß.

Der junge Mann sah gut aus, das musste ich zugeben. Er stand an ihrem Schreibtisch, sie konnte ich nicht durch das Fenster sehen. Vielleicht hockte sie am Boden. Ich wünschte mir, ihre Unterhaltung zu hören, aber ich konnte lediglich die Umrisse von ihnen erahnen.

"Du hast ja keine Ahnung, wie froh ich bin, dass du da bist."

"Sag schon, wieso wolltest du, dass ich sofort herkomme?"

Jule stand von ihrem bunten Flickenteppich auf und ging ans Fenster. Matthias beobachtete, wie sie zusammenzuckte. Leise ging er zu ihr, umarmte sie und legte den Kopf auf ihre Schulter.

"Süße, irgendetwas stimmt doch nicht. Was ist denn los?"

Vorsichtig deutete sie aus dem Fenster auf eine Parkbank, wo ein Mann mit einem unglaublich dicken Ordner saß und ungefähr in ihre Richtung saß. Sein Anblick schien Jule aufzuregen und sie begann zu weinen. Matthias zog sie aufs Bett und setzt sie auf seinen Schoß.

"Wer ist der Mann?"

"Er verfolgt mich!"

"Was?"

Sie schluchzte.

"Seit Monaten sehe ich ihn immer öfter. Er ist irgendwie immer in meiner Nähe, und wenn ich ihn ansehe, starrt er mir direkt ins Gesicht. Jeden Abend sitzt er hier und beobachtet mein Fenster!"

"Soll ich mit ihm reden?"

Sie sah ihn an, sichtlich überrascht. Dann nickte sie.

Hand in Hand verließ ein Pärchen den Wohnblock. Die kleine, dünne Frau hielt sich fest am Arm des breitschultrigen Mannes fest. Es dauerte einen Moment,bis ich sie erkannte, neben ihr dieser Mann. Wie elektrisiert sah ich, wie sie die Straße überquerten und immer näher kamen. Eigentlich hätte ich meine Sachen nehmen sollen und wegrennen sollen, aber ich war zu sehr von ihr fasziniert. Noch nie habe ich ihr direkt ins Gesicht sehen können, ohne dass sie in eine andere Richtung sah.

Ich starrte sie noch immer an, als mich der fremde Mann ansprach.

"Hey. Kennen Sie Anna hier?"

Unwillkürlich rutschte mir heraus: "Sie heißt Jule!"

Beide rissen ihre Augen auf. Scheiße, warum hatte dieses Arschloch mir auch den falschen Namen gesagt. Schnell sprang ich auf. Ich wollte losrennen, aber dieser Idiot hielt meinen Arm fest. Ich ballte meine Fäuste, eine Art konvulsivische Wut erfasste mich und blindlings schlug ich zu. Doch er duckte sich und meine Faust traf Jule. Wie in Zeitlupe fiel sie um. Sofort vergaßen wir jede Prügelei und knieten neben ihr nieder. Sie hielt sich die Schläfe, dunkles Blut tropfte auf den Asphalt. Ich war mehr als nur zu Tode erschrocken. Jule richtete sich zitternd auf. Sie hatte sich bei ihm eingehängt und schrie mich an: "Was bist du denn für ein krankes, perverses Arschloch? Was ist dein Problem? Du stalkst mich erst- Ja, glaub nicht, dass ich es nicht bemerkt habe!- und dann schlägst du mich nieder! Mir reichts! Du perverses Schwein, ich werde dich anzeigen!"

Ich schüttelte panisch den Kopf.

"Nein, bitte nicht, ich wollte nur..."

"Nur was? Meinen Freund niederschlagen? Matthias, fahr mich bitte weg. Bitte!"

Matthias nahm sie am Arm und führte sie weg, zu einem kleinen Passat, der am anderen Ende der Straße stand. Sie stieg auf der Beifahrerseite ein und der Wagen startete.

Traurig blieb ich stehen. Warum hatte ich bloß zugeschlagen? Sie dachte nun sicher, dass ich ein Psychopath war. Und ich hatte vergessen, mir das Nummernschild einzuprägen. Scheiße, das war heut nicht mein Tag.

Matthias startete den Motor. Jule blickte stumm aus dem Beifahrerfenster. Ihre Schläfe blutete immer noch leicht, und er beschloss, sie ins Krankenhaus zu fahren. Und in Zukunft, so beschloss er, würde er bei ihr einziehen oder sie bei ihm. Irgendwer musste sie ja vor dem Verrückten schützen. Und wer, wenn nicht Matthias? Ihre Eltern hatte sie schon als Kleinkind verloren, und sie hatte nicht viele Freunde, sie war eher ein Einzelgänger. Selbst sie beide waren erst seit wenigen Wochen ein Paar.

Matthias parkte vor der Krankenhaustür. "Was machen wir denn hier?"

"Prinzessin, vielleicht muss die Wunde genäht werden, oder du hast dir beim Sturz eine Gehirnerschütterung zugezogen. "

"Okay, dann gehen wir halt. "

GestalktWo Geschichten leben. Entdecke jetzt