Seit zwei Stunden waren die beiden jetzt schon im Krankenhaus. Ich hoffte zwei Dinge: 1.) dass Jule nichts Ernsthaftes passiert war und 2.) dass sie mich nicht anzeigen würden. Das Auto habe ich auch nicht gefunden, und der Ordner lag noch immer auf der Bank vor Jules Haus, und verschwand vermutlich unter der Schneedecke, da seit zwei Stunden ein Schneesturm tobte. Ich war mir nicht sicher, ob die Tatsache, dass ich mit Jule von Angesicht zu Angesicht reden konnte all diese Sachen aufwog. Noch weitere zwei Stunden musste ich warten (mittlerweile war es bereits weit nach Mitternacht), dann kamen sie endlich aus der Schiebeglastür des Krankenhauses.
Eng umschlungen gingen sie in die mir entgegengesetzte Richtung. Ich folgte ihnen, beschleunigte meine Schritte immer mehr und kam schließlich keuchend bei ihnen an. Sofort stellte Matthias sich vor Jule und sagte mit vor Wut bebender Stimme: "Verschwinde endlich! Hör auf, sie zu verfolgen, vergiss sie und den Grund, warum du auch immer sie stalkst!"
Jule blickte schüchtern hinter seinem Rücken hervor. Erschrocken bemerkte ich, dass sie einen Verband unter ihrer Mütze trug. Das wollte ich nicht. Leise sagte sie: "Bitte."
Ich war wie vom Blitz getroffen. Unser Leben war nicht in die Richtung gegangen, in die ich es erträumt hatte. Ich hatte mir immer vorgestellt, wie ich sie mit ungefähr zwanzig Jahren "kennenlernte", sie sich in mich verliebte und ich ihr mit vielleicht dreiundzwanzig Jahren einen Heiratsantrag machte. Dann, ein Jahr später würden wir heiraten, Kinder bekommen und schließlich nach tollen, erfüllten Jahren mit neunzig Hand in Hand einschlafen würden. Und jetzt hasste sie mich.
Ich drehte mich um und ging.
Zuhause angekommen ließ ich mich auf den Boden fallen und sah mich um. Zum ersten Mal bemerkte ich, wie es eigentlich bei mir aussah. Ich wohnte in einer flachen, winzigen Hütte aus Wellblech am Straßenrand. Die Wände waren voll mit unordentlich befestigten Bildern von Jule, das Bett war nur eine durchgelegene Matratze und in der Spüle stapelte sich das kaputte Geschirr. Wenn ichs mir recht überlegte, war Jule das Einzige, was meinem Leben einen Sinn gegeben hatte. Sie war der Dreh- und Angelpunkt meiner Welt, und jetzt war er ins Schwanken gekommen. Sie hasste mich, und ich hasste mich dafür auch. Aber dieser Moment der Klarheit ging schnell vorüber, und bald war die Hütte wieder ein Haus, bald würde sich Jule in mich verlieben und wir würden glücklich leben.
Matthias legte Jule die Hand auf den Rücken und schob sie sanft in seinen Wagen. Die ganze Fahrt über schwieg sie und sah aus dem Fenster. Immer wieder blickte er besorgt zu ihr. Sie tat ihm leid, und er machte sich Sorgen um sie.
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Gestalkt
RandomNatürlich liebe ich sie. Und ich bin mir ganz sicher, dass sie mich auch lieben würde, wenn sie mich kennen würde. Deshalb passe ich auf sie auf. Nennt es Stalken, ich nenne es Aufpassen.