Die Quelle

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Wendy hörte nur mit einem Ohr zu und trotzdem quasselte Kiki ihr dieses eine Ohr ab. In letzter Zeit hatte sich einiges verändert. Pan hatte sich dazu überreden lassen, eine friedliche Koexistenz zwischen Lost Boys und Meerjungfrauen einzuführen. Deshalb konnten die Meerjungfrauen jetzt neben Wendy auf dem Strand liegen, sich von der Brandung wässern lassen und badeten in der Sonne.
"Mach, dass es aufhört!" stöhnte Wendy verzweifelt und schlug beide Hände über die Ohren. Macaria lachte.
"Was soll aufhören?"
"DAS!" Wendy deutete auf Kiki, die ununterbrochen plapperte. Macaria lachte schallend.
"DAS kann man nicht zum Aufhören bringen."
"Verdammt!" knurrte sie und rappelte sich auf. "Dann verschwinde ich mal!"
"Hey, ich hab dir noch gar nicht alles erzählt!" schrie Kiki ihr hinterher. Wendy winkte nur ohne zurück zu sehen und schlenderte einfach weiter. Ziellos wanderte sie über die Insel, wie sie es gerne tat. Irgendwann erreichte sie einen Strauch Dreamshade und blieb vor der tödlichen Pflanze stehen. Vorsichtig strich sie mit den Fingern an einer der bösartigen Dornen entlang. Plötzlich teilten sich die Sträucher und gaben den Weg zu einer kleinen Lichtung frei. Neugierig wagte Wendy sich vor.
Deshalb liebte sie diese Insel so sehr, obwohl sie der wohl gefährlichste Ort war, an dem sie je gewesen ist. Es gab immer etwas neues zu entdecken.
Hinter hier schlossen sich die Sträucher wieder. Davon ließ Wendy sich nicht durcheinander bringen. Wenn sich auf dieser Insel ein Weg verschloss, öffnete sich ein neuer.
Staunend sah Wendy sich um. Ein kleiner Fleck Paradies. Vor ihr erstreckte sich eine idyllische Quelle, wahrscheinlich war sie sogar warm und um sie herum wuchs saftiges Gras. Vorsichtig streckte Wendy die Zehen ins Wasser. Tatsächlich war es beinahe heiß und das ohne zu blubbern.
"Ja ja, scheiß auf Physik!" murmelte Wendy, bevor sie sich rasch auszog und ins Wasser sprang. Ihr entfuhr ein wohliger Seufzer, als sie spürte, wie Kälte und Schweiß davon schmolzen. Genüsslich ließ sie sich auf der Wasseroberfläche treiben und schloss leicht die Augen. Bedächtig paddelte sie mit den Füßen im Wasser, um an der Oberfläche zu bleibe. Das Haar bildete eine helle Lache um ihren Kopf, wie ein Heiligenschein. Ihre Oberschenkel und die Spitzen ihrer Brüste ragten aus dem Wasser. Über ihr erstreckte sich das dichte Geäst der Bäume, das die gesamte Insel bedeckte. Langsam schloss Wendy die Augen und legte den Kopf noch weiter in den Nacken. Sie nahm das Rauschen des kleinen Wasserfalls nur noch als gedämpftes Donnern wahr. Mit den Füßen strampelte sie sich durchs das Becken, bis sie den Wasserfall erreichte. Mit einer fließenden Bewegung, wie das Wasser um sie herum, richtete sie sich auf und ging rückwärts, bis das fließende Wasser auf ihre Schultern trift. Schnurrend vor Wonne ließ sie den Kopf hängen und genoss die Wassermassage. Dann öffnete sie langsam die Augen und begegnete Pans Blick über die Quelle hinweg. Der König Neverlands stand am Ufer und starrte sie an, als würde er sie gerne zum Frühstück verspeisen. Einige Minuten sahen sie einander nur an, dann leckte Wendy sich bewusst provozierend über die Lippe, die von dem blutigen Kuss noch wund war. Sie machte keine Anstalten sich zu bedecken. Stattdessen stemmte sie sogar noch eine Hand in die Hüfte und sah ihn mit gehobener Augenbraue an.
"So wie du starrst, könnte man meinen, du hättest noch nie eine nackte Frau gesehen."
Pan riss den Blick von ihrem flachen, vernarben Bauch los und versuchte sich auf ihr Gesicht zu fixieren. Doch das war anscheinend gar nicht so einfach bei all der nackten Haut, die er stattdessen ebenfalls betrachten könnte.
"Man kann durchaus sagen, dass du die interessanteste bist."
Wendy schnaubte hämisch und verschränkte jetzt doch die Arme vor den Brüsten. Jeder Zentimeter ihrer Haut war bedeckt von Narben. Diese Narben waren alle so unterschiedlich, wie die Arten, auf die sie sie bekommen hatte. Stich- und Schussnarben. Eine Verbrennung am Hüftknochen. In ihrem rechten Schenkel fehlte ihr sämtliches Gefühl wegen den Granatsplittern, die sie dort durchbohrt hatten. Die langen, eleganten Narben von Peitschenhieben zierten nicht nur ihren Rücken. Schnittwunden, entweder von den Messern ihrer Feinde oder umherfliegenden Gegenständen.
Natürlich!
Ein Körper wie der ihre konnte niemals als schön bezeichnet werden. Interessant war noch eines der freundlichen Adjektive.
Plötzlich hatte Wendy das Gefühl sich für ihren entstellten Körper schämen zu müssen. Mühsam kämpfte sie gegen dieses unangenehme Gefühl an, das in ihr hoch kochte.
Sie musste sich für überhaupt nichts schämen!
Diese Narben erzählten ihre Geschichte. Die Geschichte ihrer Taten und wie sie sie überlebt hatte. Und es hatte nicht immer gut für sie ausgesehen.
Als es plätscherte, hob sie den Blick vom Wasser, auf das sie unbewusst gestarrt hatte, um Pan nicht länger in die Augen sehen zu müssen.
Er war in die Quelle gestiegen und kam nun auf sie zu gewatet. Das Bedürfnis zurück zu weichen, nahm zu. Wendy reckte herausfordernd das Kinn vor, ein Spiegel aus Eis glitzerte in ihren Augen.
Pan streckte die Hand aus und Wendy beobachtete ihn ganz genau. Dann kam seine warme Haut auf ihrer Wange zum Liegen und strich sanft darüber. Seine Finger glitten zu ihrem Kinn und hoben es leicht an, sodass sie ihm direkt ins Gesicht sah. Ihre Blicke verschränkten sich ineinander.
"Wirklich interessant!" murmelte Pan und da spürte Wendy seine Hand an ihrem nackten Bauch, wo sie über die vielen Narben tastete. Sie zuckte leicht.
"Ich hasse dich, Pan!" murmelte sie fast schon liebevoll und ein breites Lächeln erblühte auf Pans Lippen.
"Ist das ein Versprechen, Wild Girl?"
"Darauf kannst du dich verlassen!" Ihr Kopf neigte sich leicht zur Seite, ein hämisches Funkeln in den Augen.
Pan lehnte sich mit einem kleinen Lächeln vor.
"Weißt du, Wendy, es hat zwar eine Weile gedauert, aber jetzt habe ich dich durchschaut."
In ihrem Gesicht zuckte es, doch weiter reagierte sie nicht auf seine Worte.
"Du bist wie ein Spiegel der gewöhnlichen Emotionen, die Menschen normalerweise zeigen. Wenn sie glücklich sind, lachen sie. Du schnaubst oder schaust grimmig. Wenn dir etwas gefällt, wird dein ganzer Körper ganz steif und du bewegst dich nicht mehr. Eine Situation, in der andere vor Freude Luftsprünge machen. Und obwohl du die Worte "Ich hasse dich!" benutzt, meinst du doch in Wahrheit "Ich liebe dich!" Oder etwa nicht?"
Wendy starrte ihn an, blinzelte und boxte ihm in den Bauch. Doch diesmal hatte Pan ihre Reaktion voraus gesehen. Er fing ihre Hand noch gerade rechtzeitig ab und führte sie an die Lippen.
"Und weißt du was, Darling? Ich hasse dich auch!"
Ein Muskel in ihrer Wange zuckte heftig. Sie versuchte offenbar die Kontrolle über ihre eigene Gefühlswelt zurück zu bekommen. Das durfte Pan nicht zulassen. Er hatte sich gerade ein Loch in ihrem Schutzwall gegraben. Das durfte sie nicht wieder verschließen. Er musste ihre Mauern komplett zum Einsturz bringen und dann würde sie ihm endlich gehören.
Denn je länger er diesem engelsgleichen Wesen seit ihrer ersten Begegnung nach gejagt hatte, desto mehr war ihm bewusst geworden, dass er sie wollte. Er hatte sie nicht gejagt, um sie zu töten, sondern einzig, um sie zu der seinen zu machen. Er wollte sie an sich binden, sodass sie nie wieder ohne ihn sein konnte.
Langsam leckte er ihre raue Fingerkuppe ab, bevor er sie in den Mund saugte. Wendys Augen wurden groß und ihre Atem ging schneller.
"Was..."
Er schob seine Zunge zwischen ihre Finger und genoss sichtlich den Geschmack ihrer Haut. Sie versuchte zurück zu weichen. Sofort legte er einen Arm um ihre nackte Taille und zog sie zurück an seinen Körper. Ließ sie seine Kraft spüren. Und nicht nur die körperliche Kraft. Mithilfe seiner Magie wob er Bänder um sie beide, strickte ein Netz, aus dem es kein Entkommen gab. Sie spürte es sofort. Gerade wollte sie ihn anfauchen, als er eine Stelle am Ende ihrer Wirbelsäule oberhalb des Steißbeins berührte und sie mit einem Schaudern an seine Brust sank. Niemand wusste von dieser Stelle und Pan hatte sie einfach so instinktiv gefunden. Dieser bestimmte Punkt ließ ihren Körper vor Freude zittern und zucken und ihre Beine schwach werden.
"Mist...kerl!" keuchte sie atemlos und krallte ihre freie Hand in seinen Rücken. Er schmunzelte sie um ihre Finger hinweg an. Dann ließ er sie langsam aus seinem Mund gleiten. Eine Bewegung, bei der Wendy von einer unbekannten, nie dagewesen Hitze erfasst wurde, sie sie sinnlich aufstöhnen ließ. Triumph blitzte in Pans Augen auf. Jetzt hatte er sie! Mit einer schnellen Bewegung griff er in ihre Haar, er liebte diese seidige Mähne einfach, und bog ihren Kopf zurück. Anstatt sich jedoch ihrer Lippen zu bemächtige, drückte er die Lippen auf ihre samtige Kehle. Mit der Zunge ertastete er eine Narbe, die wahrscheinlich von einem Würgedraht stammte. Nur die Gewissheit, dass der Kerl, der ihr das angetan hatte, bereits tot war, besänftigte ihn. Wendy war kein Mädchen, das er beschützen musste. Sie beschützte sich selbst und ihre Feinde waren nicht in der Lage aus ihren Fehlern zu lernen, denn sie waren tot.
"Du gehörst zu mir, Darling!" flüsterte er an die Narbe, bevor er sie mit der Zunge nach fuhr.
"Und ich hasse dich immer noch!" keucht sie, doch in ihren Augen glitzerte eine wundervolle Wärme, die ihre Worte Lügen strafte.
Pan lächelte.
Dieser Engel mit den vergifteten Klingen liebte ihn und sagte es ihm auf die einzige Art, die sie kannte.
Manche Pärchen hatten in ihren Märchen bestimmte Dinge, die sie zueinander sagten und ihnen alles bedeuteten. Etwas, das ein Versprechen und eine Verdeutlichung ihrer Gefühle zugleich war. Für sie war es dieser eine schlichte Satz.
Ich hasse dich!
Er konnte ihr einfach nicht widerstehen.
"Ich hasse dich auch!"

Take me to NeverlandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt