Kapitel 1

23 3 0
                                    

„Okay, ähm... Ich... will euch noch jemanden vorstellen", kündigte ich nervös an. Meine Hände waren nass vom angstvollen Schwitzen, während ich den hektischen Schlag meines Herzens die Rippen zerschlagen spürte.
Es gab gar keine Möglichkeit, dass dieses Gespräch gut ausgehen würde.

„Oh, wie toll! Hast du endlich eine Frau kennengelernt, mein Sohn?", fragte mein Vater freudig. Freudig, aber distanziert. Wie immer. Aber das tat mir nicht mehr weh, daran war ich gewöhnt, seit fast neunzehn Jahren.

Ich war ein reiches Kind noch reicherer Eltern, hatte immer alles, was ich wollte. Fernseher, Computer, iPhone, Playstation, ein Modellflugzeug, ein echtes Flugzeug. Alles kam zu mir, wenn ich es nur wollte.

Nur Liebe wurde mir nie geschenkt. Alle Gespräche liefen auf einer höflich-respektvollen Ebene ab, die keinen Funken Emotion erlaubte.

„Nein. Also ja, aber nicht so ganz", stotterte ich und ging zur Tür, um Raphael hineinzulassen.

„Das ist Raphael. Wir sind seit einem halben Jahr zusammen", erklärte ich die Erscheinung des absolut heißen Jungen, den ich meinen Freund nennen durfte.
Seine schwarz gefärbten Haare standen gerade so wild genug ab, um noch nicht ungepflegt zu wirken. Der große, trainierte Körper war in einer hautengen Hose und einem zu großen schwarzen T-Shirt mit weitem Ausschnitt verborgen.
„Hallo, es freut mich Sie kennenzulernen", grüßte Raphael fröhlich und streckte die Hand aus.

Dann war kein Laut mehr zu vernehmen.
Das Gesicht meiner Mutter zeigte eine Mischung aus Mitleid und Ekel, während mein Vater pure Abscheu ausstrahlte.
„Raus. Alle beide", flüsterte er.

Keine Bewegung.
„ICH HABE GESAGT, RAUS!", schrie er aus vollem Halse, „ICH AKZEPTIERE IN DIESEM HAUS KEINE SCHWUCHTELN", feuerte er wild hinterher und schlug derart kraftvoll auf den Tisch, dass die edle Kristallglasvase umfiel. Dabei lief das darin befindliche Wasser in einem Schwung auf die weiße Tischdecke, während die schon etwas welke Gerbera vor Schreck die Hälfte ihrer Blätter von sich warf.

Raphael und ich rannten unterdessen aus dem Salon in mein Zimmer. Eilig stopfte ich ein paar Klamotten, sowie Ladekabel, Kopfhörer, meinen USB-Stick und mein Kuscheltier in einen Rucksack, den ich über die Schultern warf und damit aus dem Haus stürmte. Durch die Tränen, welche nun aus meinen Augen quollen nur noch verschwommen sehend, traf ich dabei schmerzhaft mehrere Türrahmen, bevor ich auf der Treppe vor der Pforte ausrutschte und die restlichen drei Stufen herunterfiel.
Ich rappelte mich auf und lief, das Blut an meinen Handflächen ignorierend Raphael hinterher.

Wegen ihm hatte ich dieses Gespräch gesucht. Wir waren wirklich glücklich miteinander, aber nur alleine. Unsere Beziehung verlief heimlich, wenn wir zuhause waren. Ich hatte zu große Angst, mich vor all den anderen zu outen, zuzugeben, dass ich schwul war. Aber Raphael wollte diese Liebschaft öffentlich führen, mich nicht verheimlichen, und das verstand ich auch. Er sagte, ich müsse mit meinen Eltern reden, sobald unsere Beziehung ein halbes Jahr gehalten hatte, sonst würde er mich verlassen.

Also wollte ich heute Raphael meinen Eltern vorstellen und das Geheimnis aus der Welt schaffen.

---

In der Wohnung meines Freundes angekommen reinigte ich schnell die Wunden, welche ich mir beim Sturz von der Treppe zugezogen hatte, bevor ich mich erschöpft auf das Doppelbett fallen ließ. Wir beide hatten erst vor ein paar Monaten die Schule beendet, aber Raphael war schon mit siebzehn in eine eigene Wohnung gezogen, weil er von seinen ewig saufenden Eltern genug hatte.

„Alles wird gut, mein Tommy", flüsterte er mir ins Ohr.
Wir lagen eng umschlungen auf dem Bett, während ich mir immer noch die Augen aus dem Kopf weinte.
Ich wusste nicht einmal, wieso mir das so am Herzen lag, hatte ich doch nie eine engere Bindung zu meinen Eltern gespürt, aber es machte mich unglaublich fertig, wie sie mich fortgestoßen haben wie eine heiße Kartoffel.

„Nichts wird gut! Jetzt wirst du mich verlassen, weil ich mich nicht traue, mich zu outen!", heulte ich und krallte mich in Raphaels Shirt. Ich lag so nah an ihm, wie es irgendwie ging, trotzdem fühlte ich mich so allein. Schnell legte ich noch ein Bein um seinen Körper und presste ihn eng an mich, doch es half alles nichts.
„Nein, du hast dich doch vor deinen Eltern geoutet! Der Rest ist viel einfacher, das verspreche ich dir!", säuselte er.

Ich wollte das wirklich gerne glauben, aber ich konnte nicht.

Die WeihnachtsbrückeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt