Kapitel 2

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Drei Tage später, die Uni war gerade vorbei, ging ich ausnahmsweise nicht direkt zu Raphael. Ich konnte endlich den Mut aufraffen, nach Hause zu gehen, um einige Sachen zu holen, während meine Eltern arbeiten waren. Das hatte ich meinem Freund auch geschrieben. Ich würde vielleicht eine Stunde später als sonst da sein, und sozusagen zu Hause ausziehen.

Doch als ich den Schlüssel im Schloss umdrehen wollte, passierte nichts. Ich vergewisserte mich, auch wirklich den richtigen Schlüssel gegriffen zu haben, bevor ich nah am Zusammenbruch feststellte, dass das Schloss ausgewechselt worden war.
Schon wieder eine Träne im Augenwinkel drückte ich den Klingelknopf.

Tatsächlich öffnete mir bald darauf meine große Schwester.
„Hallo Lisa", sagte ich tonlos und wollte hineingehen, doch sie schüttelte nur traurig den Kopf.

„Leb wohl, Brüderchen", antwortete sie und schloss die Tür wieder.
Schnell stellte ich meinen Fuß dazwischen und rief verzweifelt: „Bitte, Lisa, lass mich nur mein Zeug holen! Ich versteh ja, dass du dich nicht gegen Mama und Papa stellst, aber lass mich an meine Sachen!"
„Sorry Kleiner", sagte sie nur und drückte gegen die Tür.
Einsichtig nahm ich meinen Fuß von der Türschwelle und drehte mich zum Gehen.
Meine Eltern hatten gewaltige Autorität und ich konnte es meiner Schwester nicht einmal übel nehmen, mich nicht hereinzulassen. Sie war genauso abhängig und konnte ihr Zuhause nicht für mich riskieren, das verstand ich.

Also trottete ich viel früher als geplant zu Raphaels Wohnung zurück. Für diese hatte ich sogar auch einen Schlüssel, sodass ich nicht erst klingeln musste.
Aber als ich eintrat drangen merkwürdige Geräusche an mein Ohr.
Ein Kichern, ein Seufzen.
Viel zu schnell atmend suchte ich die wenigen Räume ab, bevor sich mir die Schlafzimmertür in den Weg stellte.

Mir bot sich ein Anblick, der mich endgültig zerstörte. Auf dem Bett lag Jonas, mein bester Freund, ohne T-Shirt, mit offener Hose und einer beträchtlichen Beule im Schritt. Auf seinen Oberschenkeln saß Raphael nur in Boxershorts und führte gerade Jonas' Hand zwischen seinen Beinen hinauf.

„Sorry, Tommy, ich wusste nicht, dass du so zeitig wieder da bist", entschuldigte sich Raphael gedankenverloren, während Jonas' Fingerspitzen sich langsam von unten in die enge Boxershorts meines Freundes schlichen.
„Los, zieh dich aus und mach mit", schnurrte Jonas, während er nun auch Raphaels Hand an nicht jugendfreie Stellen bewegte.
Wie angewurzelt stand ich in der Tür und konnte mich nicht bewegen. Diese Situation war so surreal, dass sich mein Gehirn nicht recht entscheiden konnte, ob es den Informationen meiner Augen und Ohren Glauben schenken sollte oder nicht.

Schließlich sah es ein, dass ich nicht träumte.
Mit einem unbeschreiblichen Schmerz in der Brust schnappte ich mir den Rucksack mit den Sachen, die ich von zuhause mitgenommen hatte und stürmte aus der Wohnung.

Ungewiss, wohin ich laufen sollte, rannte ich tränenüberströmt durch die Straßen und Gassen, nur weg. Wie konnte er mir nur so etwas antun? Und was war in Jonas gefahren? Wie lange ging das schon? Nicht nur, dass er als einer der wenigen wusste, dass Raphael mein Freund war, er fragte auch noch, ob ich mitmachen wollte! Ich wusste, dass Schwule ziemlich frei mit Sex umgingen. Sie schliefen mit jedem, den sie kriegen konnten und machten auch vor Aktionen mit mehr als zwei Menschen nicht halt, was ja auch okay ist, aber ich hätte nicht gedacht, dass mich die beiden wichtigsten Personen in meinem Leben hinter meinem Rücken betrügen würden. Es war, als wäre ich mitten vom Rand eines Vulkans mitten in die Lava geschubst worden. Ich verbrannte von innen, meine Papierseele hatte Feuer gefangen.

Irgendwann, nach endloser Zeit, kam ich an unserem Ferienhaus an. Nachdem ich ziellos umhergelaufen war, stand ich auf einmal vor einer S-Bahn-Station. Schulterzuckend war ich eingestiegen und die Stunde zu dem kleinen Häuschen im Grünen gefahren. Dort blieb ich einfach. Tage, Wochen. In die Uni zu gehen, hätte so wieso keinen Zweck gehabt. Ich konnte mich ja nicht einmal darauf konzentrieren, ein Buch zu lesen, einen spannenden Thriller. Irgendwann merkte ich erschöpft, dass ich ein und dieselbe Seite immer wieder gelesen habe, ohne ein Wort zu verstehen. Da brauchte ich auch keinem Dozenten zuzuhören, ich würde es eh nicht verstehen.

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Es war 23. Dezember. Ich hatte mir schnellstens eine kleine Wohnung gemietet, damit ich irgendwo leben konnte, als in einem kleinen Ferienhaus. Zudem war es eh nur eine Frage der Zeit gewesen, bis auch von diesem Ferienhaus die Schlösser getauscht worden wären. Nun nannte ich drei kleine Zimmer im fünften Stock eines alten Mietshauses aus den Zeiten des Genossenschaftsbaus mein Eigen. Nach dem Luxus meiner Kindheit hatte ich erwartet, diesen Umsturz schlimmer zu finden, aber es ließ mich eigentlich kalt. Wieso sollte ich auch Platz wollen? Weder brauchte ich ihn, noch hatte ich etwas zum aufstellen.
In meine kleine Wohnung hatte ich zu Weihnachten fast jeden eingeladen, den ich einmal gekannt hatte. Meine Eltern, meine Schwester, auch meine ehemaligen Freunde aus der Schule.
Aber niemand wollte kommen.
Es würde das erste Weihnachten sein, an dem ich alleine war.

Beim Frühstück lese ich die Zeitung.

Die Weihnachtsbrücke

Auch in diesem Jahr befürchtet die Polizei wieder stark erhöhte Suizidraten am Weihnachtsabend, besonders an der berüchtigten „Weihnachtsbrücke". Schon in den vergangenen Jahren entwickelte sich um die große Hängebrücke über die A15 eine Art Kult. Am Abend des 24. Dezembers nutzen die Menschen dieser Stadt die Brücke, um sich von ihr in den Tod zu stürzen. Insgesamt 258 Tode wurden seit 2010 im Zusammenhang mit Weihnachten und dieser Brücke verzeichnet. Wie im letzten Jahr kündigte die Polizei bereits an, den Abschnitt der A15 aus Sicherheitsgründen ab 12 Uhr zu sperren.
Weiterhin sorgte ein nur dreizehn Jahre alter Junge für trauriges Aufsehen, in dem er per Twitter die Polizei und weitere Behörden darum bat, sich am Heiligen Abend von der Brücke fernzuhalten, um allen Suizidalen einen friedlichen Tod zu gewährleisten.
Thomas Kiwots

Uninteressiert zucke ich die Schultern. Die Weihnachtsbrücke war mir nicht neu, ich hatte schon davon gehört.

Schweigend schließe ich die Wohnungstür zu und laufe die Etagen herab. Früher war ich nicht so. Ständig habe ich gepfiffen, gesummt oder etwas gesungen, und damit alle genervt, weil ich nicht wirklich singen kann. Aber seit einiger Zeit war ich still geworden. Auch in den wenigen Konversationen, die ich mit meinen Nachbarn führte, war ich ziemlich schweigsam.
Ich bin nicht einmal wirklich unglücklich, nicht mehr. Fast emotionslos bin ich.

Ich gehe heute nach draußen, um einzukaufen. Denn für Weinachten morgen brauche ich noch einiges, um ein Essen zu kochen.
Wie viel sollte ich wohl kaufen?
Ich will vorbereitet sein, falls doch jemand vorbei kommt, aber ich will auch nichts wegwerfen müssen...
Also kaufe ich Zutaten für fünf Portionen.

Schwer beladen kehre ich nach Hause zurück. Erschöpft lade ich all meine Einkäufe ab und räume sie in den Kühlschrank. Dann schnappe ich mir meine Kopfhörer und lege mich rittlings in mein Bett. Ganz ehrlich, ich bin gar nicht so unzufrieden damit. Ich kann mich viel mehr mit Musik befassen, seit dem ich alleine bin. Also nicht alles nur schlecht..

Die WeihnachtsbrückeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt