Sturm

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Esras Vater erahnte den Sturm bevor sie ihn sahen. Er war zu lange auf See, um nicht zu bemerken, dass die Luft zu kühl, der Wind zu rau und der Sonnenaufgang zu farblos war. Der Kapitän liebte diese reißende Ruhe vor dem Sturm, liebte die Spannung, die so schwer in der salzigen Luft lag. Ragnar Scrope fand das waren die wenigen Momente, in denen die Menschen dem Meer die Angst gegenüber brachten, die es eigentlich verdient hatte. Er fand, dass ein Mann nur zwei Dinge fürchten durfte: Die See und den Tod. Letzteren nur wenn er zwischen den tosenden Wellen eines zum Untergang verdammten Schiffsbuges verborgen lag.

Esra stimmte ihrem Vater nicht zu. Wenn es jemanden gab der die See mehr zu respektieren wusste als Ragnar Scrope, dann war es seine Tochter. Esra hatte nicht das Bedürfnis die Angemessenheit jenes Respektes übermäßigt verdeutlicht zu bekommen. Ein rauer Wellengang bedeutete Gefahr und Gefahr bedeutete zusätzliche Arbeit. Jede Form von zusätzlicher Arbeit war schlecht für das Geschäft. Viel wichtiger noch: Unwetter waren vor allem schlecht für das Schiff. Nach jedem Sturm fand Ragnar etwas Neues, das nicht richtig zu funktionieren schien und jedes Mal konnte Esra nur hoffen, dass es sich nur um eine zerbrochene Glasscheibe, oder eine zertrümmerte Holzplanke handelte. Esras Bruder hatte die Fair Lady einmal scherzhaft als „schwimmenden Schrotthaufen" bezeichnet und auch wenn sie damals nur verächtlich geschnaubt hatte, wusste sie wie schockierend zutreffend diese Bezeichnung wirklich war. Esra war sich sicher, dass es nur eine Frage der Zeit war bis das Schiff sie und ihre Familie mit sich auf den Grund des Ozean ziehen würde und selbst wenn sie nicht dort verendeten, so würden sie es spätesten im nächsten Winter in einem der schäbigen Armenhäuser in der Stadt. Das, oder man schlug ihnen die Köpfe ab.

Doch das alles schien Ragnar kalt zu lassen. Sein Blick verlor sich geradezu verträumt im Blau der brausenden Wellen unter ihnen. Es waren Momente wie diese in denen sich Esra nicht sicher war, ob er sich nicht insgeheim danach sehnte von den schneidenden Wellenklingen des reißenden Wassers hingerichtet zu werden. Mit Sicherheit lieber von ihnen als von den Menschen.

„Bist du sicher, dass ein Sturm aufzieht?" fragte sie ihren Vater, der gegen die eiserne Reling lehnte, die graue Windjacke leicht geöffnet. Unter ihr blitze ein hellblaues T-Shirt hervor. Die selbe Farbe wie die alten Regenstiefel, die selbe feuchte Schmutzschicht, die alles auf dem Schiff in den letzten Jahren zu benetzen begonnen hatte. Esras braunes Haar war vom Seewind zerzaust und sie versuchte sich vergeblich die dunklen Locken aus dem Gesicht zu halten.

„Ganz sicher." Ragnar sprach in einem Ton, der Widerspruch gar nicht erst entstehen ließ, geschweige denn duldete.

Esra hatte ihr halbes Leben auf dem Schiff verbracht und kannte das Wetter, doch sie konnte es nicht riechen, sie konnte es nicht spüren, wie es ihr Vater es tat. Seit sie denken konnte begleitete sie das sanfte Schaukeln der Wellen und der Geruch von Salz in ihrem Haar, wenn sie sich abends in den muffigen Laken ihrer durchgelegenen Matratze vergrub. Durch ihre allerersten Erinnerungen zog sich der Geschmack und haltbargemachten Konservengemüse und das Gefühl von nasser Kleidung, die kalt auf ihrer Haut klebte. Wasser war das erste was sie sah, wenn sie morgens die Augen aufschlug und letzte, wenn sie abends zu Bett ging. Und trotz all dem spürte Esra das Meer nicht, wahrscheinlich liebte sie es nicht einmal. Das Meer ließ ihren Vater die Freiheit fühlen, doch Esra engte es ein, sie fühlte sich wie eine Gefangene. Insgeheim wusste sie, dass vielmehr ihr eigener Kopf, ihre eigene Unfähigkeit mit ihren Gedanken umzugehen, und weniger das Schiff ihr Gefängnis war. Sie wusste, dass das Problem nicht war, dass sie sich nicht bewegen konnte, sondern dass sie nicht denken konnte. Sie glaubte, dass sich das Meer mit seiner blauen Einöde in ihre Netzhaut, ihre Träume gebrannt hatte und dass es sie vollends ausgesaugt, sie selbst zur Einöde machte. Esra sah keine Ruhe in stillen Wellen und sie sah keinen Rausch in peitschenden. Sie sah nur Wasser und erbarmungslose Gleichmäßigkeit.

Wings - Flüsternde Rache [Slow Updates]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt