Juliet
Es war ein kalter Herbsttag. Ich lief gemächlich auf den Feldweg und beobachtete wie die untergehende Sonne die Felder in ein zartes Gold einhüllte. Der Himmel bot mir ein Schauspiel aus den Farben Lila, Orange, Rot und Gelb. Hinter den weiten Feldern sah man die vorbei sausenden Autos auf der Autobahn. Ich hörte das Brausen der Autos ganz leicht vom weiten als ich verträumt einen Fuß nach den anderen setzte. Unter meinen abgetragenen Chucks knirschte der Kies. Ich lächelte selig als ich das Gewicht meines Rucksacks spürte und gleichzeitig bemerkte , dass sich durch jeden Schritt das Gewicht auf meiner Seele abnahm. Ich nickte mir selbst zu, eine kleine Geste, die mir versicherte, dass es eine richtige Entscheidung war alle zu verlassen. Meine Stadt, meine Familie und die Leute, die behaupteten meine Freunde zu sein. Ich war kurz vor dem Suizid. Es war ein Samstagabend als ich vor dem Spiegel stand mit ein paar Schlafmitteln in der Hand. In dem Spiegel schaute mir eine verheulte junge Frau entgegen. Gerötete Augen, zerzauste Haare und ein verbleichtes Kiss T-shirt. In der Hand hielt sie ihr Smartphone. Ich war auf Instagram gewesen und habe gesehen, wie meine Cousine, das Leben führte, wovon ich immer geträumt habe. Freiheit, die Möglichkeit ihr Leben in Selbstbestimmtheit zu leben, ohne zu fürchten, dass Kritik sie zerschmetterte. Sie konnte reisen wie sie wollte, Tätigkeiten ausprobieren und eigene Entscheidungen treffen. All diese Dinge durfte ich nicht. Mein ganzes Leben war ich zu Hause. Von der Schule nach Hause, von der Arbeit nach Hause. Ins Elternahaus, wohlgemerkt. Jeder Schritt meines Lebens wurde bestimmt. Gleichzeitig wurde ich mit so einen scharfen Ton kritisiert, dass ich nicht für mich selbst denken kann. Und wenn ich es doch tue, wird ein neuer Fehltritt in meinem Leben markiert. Ich fühlte mich in einem goldenen Käfig gefangen, in dem verletzende Kritik auf mich regnete und langsam meinen Optimismus von meiner Seele abwusch. Ich hatte keine Erfahrungen im Leben gesammelt und hatte nichts erlebt. Ich benahm mich immer noch wie ein verschüchterndes Kind , anstatt einer selbstbewussten Frau. Ich hasste mich unendlich. Ich fühlte mich so wehrlos. Ohnmächtig vom Leben, obwohl es noch gar nicht richtig begonnen hat. Langsam führte ich meine Hand mit den Medikamenten zu meinen trockenen Mund. Meine Lippen zitterten, mein Puls beschleunigte sich und ich begann zu schwitzen. Gäbe es ein Ort, wo ich verschwinden könnte ohne jemanden zur Last zu fallen oder zu enttäuschen, ohne diesen unerträglich schweren Druck auf jeder Hautzelle zu spüren und ohne dafür die Schwelle zum Tod zu überschreiten? Genau in diesem Moment machte es Klick in meinem Kopf. Doch. Ich. Kann. Gehen. Ich gebe nicht auf. Jedenfalls noch nicht. Mit diesem Gedanken packte ich meinen Rucksack, schrieb einen Abschiedsbrief und machte mich still und leise auf den Weg.
Nun lief ich alleine auf dem Feldweg, während die letzten Sonnenstrahlen auf meiner Nasenspitze kitzelten. Nach einiger Zeit kam ich auf einer Autobahnbrücke zu als ich ein Schatten an der Stange sitzen sah. Es war ein Mädchen in einem wehenden Kleid. Ihr feuerrotes Haar fiel in Wellen über ihre Schultern und schimmerten trotz der Abenddämmerung intensiv. Sie trug ein weißes Sommerkleid, welches sich durch das schindende Sonnenlicht dunkel färbte. Ihre Haut war blass und mit Gänsehaut übersäht, da das Kleid zwar lang aber dünn und ärmellos war. Es wehte leicht hin und her und raschelte im Takt mit dem Gebüsch und den Bäumen in ihrer Umgebung. Sie saß auf einer Autobahnbrücke und blickte runter auf die sausenden Autos. Zur selben Zeit ging die Abendbelichtung an und ließ ihr Gesicht orange aufleuchten unbewusst, dass jemand hinter ihr stand. Plötzlich sah ich wie ihre nackten Schultern anfingen zu beben, ich erwartete ein Schluchzen daraufhin aber ich hörte nichts. Mit Panik erfüllt beobachtete ich wie das Mädchen ein Bein über das Gitter der Brücke schwang. Ich wusste nicht wie aber ich war innerhalb eines Wimpernschlags beim Mädchen, ergriff ihr Handgelenk und zog sie von dem Gitter weg. Dabei unterschätzte ich meine eigene Kraft und sie stürzte hart auf den Boden. Bevor ich mich entschuldigen konnte, wirbelte das Mädchen so schnell herum wie sie gestürzt ist . Ich sah jetzt ihr ganzes Gesicht und was ich sah erschütterte, erschreckte, faszinierte und spiegelte mich, wie noch kein Mensch jemals. Sie hatte ein herzförmiges Gesicht, welches jetzt mit Dreck an der Wange befleckt war. Sie hatte eine zierliche Stupsnase, die von Sommersprossen bedeckt war und weiche volle Lippen, die sich zu einer dünnen Linie verzerrte. Sie hatte leuchtend grüne Augen, die katzenhaft wirkten und von goldfarbenen dichten aber kurzen Wimpern verziert waren. In ihrem Blick sah ich Wut, Trauer, Verzweiflung... und einen Anflug von Erleichterung und Dankbarkeit? " Was soll das?!", schrie sie. " Was schmeißt du mich runter du blöde Kuh? Bist du auf einen Kampf aus oder was? Guck was du mir angetan hast... ich habe überall Schrammen und Kratzer!!!", ihr Schreien steigerte sich in ein schrilles Kreischen. Ich zitterte am ganzen Körper vor Wut und ballte meine Fäuste zusammen und spürte wie meine Finger sich in meine Handfläche bohrten. Eine Seite meines Ichs wollte wie immer das Geschrei über mich ergehen lassen, mich für die Dinge entschuldigen, für die ich keine Verantwortung trage und mich ganz klein machen, denn jeder hat mehr Recht als ich. Eine neue Seite meines Ichs hörte ich zum ersten Mal. Ich wusste nicht was mich dazu verleitet hatte, auf diese neue Stimme zu hören aber ich öffnete meinen Mund , holte tief Luft und sagte " Ach wirklich?! Ich bin im Gegensatz netter mit dir umgegangen als du es mit dir selbst wolltest!!! Wäre ich nicht dabei gewesen, hättest du dich in den Tod gestürzt!!! Glaubst ich wäre so geisteskrank und hätte dir dabei zugesehen, wie dein schlaffer Körper auf den Asphalt landet?! Oder wie der Aufprall deines Körpers auf einem Auto weitere Leute mit dir in den Tod gerissen hätte?!!! Ist es das was du willst?!!! Dann geh, gehhh dochh!!!", auch ich steigerte mich zum Kreischen hoch. Ich habe mich selbst noch nie so hysterisch und laut gehört. Normalerweise klang ich klein, leise und verzweifelt, weil ich meine Stimme nie erheben durfte und meinen Worten keine Bedeutung zugetragen wurde. Zum ersten Mal passte sich meine Stimme meiner Größe an. Das Zittern wurde zum Beben, mein Kiefer war angespannt, mein Hals ausgetrocknet. Genauso wie meine Wut ausbrach, verschwand sie auch wieder. Mein Kiefer entspannte sich wieder, ich fühlte mich schwach als das Adrenalin in meinen Blut aufgebraucht war. Das Mädchen mit den scharlachroten Haaren, kauerte noch auf den Boden, ihre tränenden Augen auf mich gerichtet. Jetzt sah ich nur Trauer und Scham in ihren Blick. Sie erhob sich langsam und schaute auf den Boden beim Sprechen. "Das war selbstsüchtig nicht wahr? Das hat er auch immer zu mir gesagt... Selbstsüchtig, aufbrausend, zu viel Persönlichkeit für so wenig Leistung... Aber ich habe es satt eine Schande zu sein.... Verdammt, wieso vertraue ich mir einer Fremden an? Es tut mir leid...und vielen Dank, nehme ich an." Ihre Stimme war vom Schreien heiser gewesen. "Alles okay...",setzte ich an. "Ich weiß wie schwer so eine Entscheidung sein kann und ich weiß, welchen Schmerz du in dir trägst. Zumindest glaube ich das. Es geht gar nicht darum seinen Tod zu wollen oder Schmerzen zu erleiden, sondern den Dingen zu entfliehen, die einem diesen Schmerz seelisch zugefügt hat. Man will Abstand von diesen Dingen, eine Lösung, Erlösung vielleicht. Aber egal wo man sich wendet, man kommt immer wieder an eine Sackgasse...die Verzweiflung tritt ein. Gleichzeitig bemerkt man, dass egal wo man sich befindet, diese Gefühle immer noch da sind wie Scham, Angst, Trauer und Selbsthass, obwohl man sich physisch vom Problem entfernt hat, denkt man sich, dass diese erdrückende Gefühle erst dann verschwinden, wenn man stirbt... Und sobald man diesen Entschluss gefasst hat, fühlt man sich frei, ruhig, ja sogar sicher seiner selbst. Für einen Selbst ein völlig fremder Gedanke. So hast du dich doch gefühlt, oder?". "Ja" hauchte sie, ihre Stimme wurde vom immer stärker werdenden Wind mitgetragen. "Das war jetzt nicht die beste Erklärung aber ich glaube, du weißt was ich meine", sagte ich während ich aus Unbehagen an meinen Braids zupfte. Auch ich fühlte mich komisch mit einer Fremden über emotionale Themen zu sprechen. " Und was machen wir jetzt?", fragte sie. "Ich gehe weiter", antwortete ich knapp. "Wohin?". "Keine Ahnung. Mal gucken." "Wie, kannst ohne Ziel herumwandern? Ergibt für mich kein Sinn. Einfach so?" "Na du hast viel reden, du siehst auch aus als wäre das hier", ich fuchtelte mit dem Finger zwischen ihrem Kleid und der Brücke hin und her"... auch nur spontan gewesen. Wer läuft im Oktober in einem Sommerkleid herum? Ich friere schon, wenn ich dich angucke..." "Tote frieren nicht", sagte sie dumpf, den Dreck von ihrem Kleid abklopfend. "Ich dachte ich wäre zu dieser Zeit im Jenseits.... Tja Pustekuchen." Sie kam mit schwermütigen Schritten auf mich zu. Auch ihre Energie ist aufgebraucht. "Ich komme mit, wo auch immer dein Ziel sein mag." Ich brauchte einen Moment, um zu realisieren, was sie da von sich gab. " Du kennst mich doch gar nicht. Ich könnte dich sonst wo hinschleppen und mit dir anstellen... ist dir das bewusst?", sagte ich entsetzt. "Lass mich überlegen.... jemand der mich vor dem Tod bewahrt hat, hat das nur getan um mich später eigenhändig umzubringen? Wenn das wirklich so wäre, das bist du die Ausgeburt des Bösen. Wärst du wirklich so, hättest du zugeschaut oder mich gar geschubst, meinst du nicht?". Ich nickte kaum merklich. " Ich nehme dich nur mit wenn du anständig für dieses Wetter gekleidet bist und genug gepackt hast.", stellte ich klar. "In Ordnung. Aber ich muss dafür nach Hause. Komm mit.", sagte sie fröhlich pfeifend während sie mir den Weg wies. Seltsames Mädchen, dachte ich mir. Hatte vor 5 Minuten einen mentalen Zusammenbruch und hüpfte jetzt mitten in der Nacht in den Wald hinein. Nach 10 Minuten erreichten wir im Wald eine Siedlung, die vor Villen nur so wimmelte. Die eine pompöser als die andere. Wir hielten vor der größten an. Sie war eine Villa im italienischen Stil mit großen Säulen, Kolibristatuen und einem riesigen Torbogen, den wir durchquerten. Bis zu diesen Zeitpunkt, sind wir in Stille gelaufen. Das Mädchen wirbelte theatralisch herum, ließ ihre roten Haare fliegen, breitete ihre Arme aus und verkündete mit einem aufgesetzten Lächeln: " Willkommen in der Hölle auf Erden. Auch mein Zuhause genannt." Ich wusste nicht, was für eine Antwort sie erwartete, also nickte ich nur und folgte ihr. Alle Fenster schienen dunkel zu sein. Es war wohl keiner zu Hause. Das Mädchen ging zielstrebig auf einer der Kolibris vor der Tür zu und klappte den Schnabel hoch. Dort holte sie einen Schlüssel hervor. Als sie die massiven Türen aufschwang und das Licht anschaltete, kam ich aus dem Staunen kaum heraus. Allein der Flur sah aus wie eine Galerie und war ein Meisterwerk. Mein Künstlerherz machte einen Sprung. Ich konnte nicht widerstehen, ich musste die Bilder genauer ansehen, die Brüstungen, Statuen, Verzierungen, ja sogar die Treppe wurde mit viel Hingabe und Können verziert. "Du kannst ja hier warten, ich komme gleich, sagte sie. Sie rannte auf der geschwungenen Treppe empor, ihre Hände hielten das Kleid hoch, damit sie nicht stolperte. Sie sah aus wie eine Prinzessin. Wie Cinderella. Nur diese Prinzessin wollte dem Schloss entfliehen... Seufzend lief ich den weiß goldenen Flur entlang bis ich anhielt um mir die Familienbilder anzuschauen. Auf den ersten Bild sah ich einen großen Mann posieren. Er hatte blondes Haar, welches graue Ansätze zeigte, breite Schultern und Smaragd grüne Augen. Sein Blick war selbstbewusst, überzeugt und spiegelte Überlegenheit wider. Es schüchterte mich ein. Er trug einen Anzug und legte seine ebenso große Hand auf die zierlichen Schultern einer Frau im ungefähr gleichen Alter. Sie war wunderschön, wie eines der Gemälde, auch sie wirkte selbstbewusst mit ihren rotbraunen Haar. Neben ihnen waren sieben junge Männer und Frauen angereiht. Ebenso schön wie das Paar. Sie entdeckte das Mädchen. Sie lächelte auch... Nur mit den Mund. Ihre Augen spiegelten unendliche Trauer und Wut wider. Nach den Bildern sah sie von jedem Kind auf den Gesamtbild große Einzelportraits und unter jedem Bild Pokale, Auszeichnungen, Kopien von ihren Abschlüssen, Bildern, wo sie wichtigen Persönlichkeiten die Hand reichten. Außer dem Mädchen. Ich suchte den ganzen Flur ab, fand aber nichts. In meiner Suche vertieft, bemerkte ich nicht, dass sie hinter mir stand. "Du kannst bis zu deinem Lebensende suchen, du wirst nix finden." Sie klang bitter. "Ich verstehe nicht, wieso du gehen willst. Es ist so schön hier." "Sag, das nie wieder. Bitte. Lass uns so schnell wie möglich verschwinden". Sie trug schwarze Wanderstiefel und eine Jack Wolfskin Jacke. Sie schulterte eine Campingtasche, wie ich eine trug und stapfte voran. Nachdem wir das Anwesen verließen, sagte sie nach einer Weile: " Da wir jetzt zusammen reisen, werde ich mich vorstellen. Ich heiße Rose. Rose Taylor." Sie streckte mir ihre Hand entgegen. " Ich heiße Juliet Moon. Auf geht's." Ich drückte ihre Hand. Gemeinsam machten wir uns, zwei mental instabile junge Frauen auf den Weg ins Unbekannte.....
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Soul Sisters
Non-FictionJuliet ist eine junge Frau, die eine Menge Dinge in ihrem Rucksack auf ihrer Reise ohne Ziel mit sich mit schleppt. Im Rucksack befindet sich ein Täschchen depressiver Verstimmungen, eine Tube Angstzustände und eine Flasche voller Minderwertigkeitsk...