serifenlose Skepsis

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Erfurt, spätnachmittags, 07.04.2010

Natalie

Ihre Schatten erstreckten sich wenige Meter. Das warme Wetter, welches nicht den Anschein genommen hatte, warm zu sein, simulierte nur seine graue Stimmung anhand von ein paar Wolken, die sich nun schon wieder verzogen hatten. Für Anfang April spielte das Wetter eben seine gewohnt verrückte Tournee.
Ihre Schwester, Magdalena, und sie hatten sich eben auf den Weg gemacht, um Entkalker für die neue Kaffeemaschine, die von ihrer neuen WG- Partnerin Elvira mitgebracht worden war, zu kaufen, denn Elvira fühlte sich heute nicht besonders auf der Höhe, um irgendetwas zu tun, nicht einmal wenn es sich um ihre heißgeliebte Kaffeemaschine handelte.
"Ich schätze, unsere neue Mitbewohnerin hat eine kleine bis mittelschwere Depression." Sie verdrehte die Augen. "Magda, nur weil du im vierten Semester Psychologie studierst, muss das nicht heißen, dass jeder in deinem Umfeld an einem psychologischen Defekt leidet."
Magdalena zuckte mit den Schultern. "Könnte aber gut sein."
Sie beschleunigte ihre Schritte, um ihre kleine Schwester daran zu erinnern, dass sie ziemliches Desinteresse hegte, wenn sie zahlreiche Symptome einer Depression aufzählte. Magdalena hatte sie allerdings schon längst eingeholt. "Schon gut, Schwesterherz, schon gut. Du bist doch bloß ein bisschen angefressen, weil du aufgeregt wegen heute Abend bist. Komm, es ist ja nicht so, als ob das dein erstes Date nach Jahren ist." Leider lag ihre Schwester meilenweit im Unrecht, weswegen sie kurz stehen blieb, um sie mit einem Blick voller Skepsis zu konfrontieren.
"Oh, verdammt, Natalie?! Was hast du bitte in all den Jahren gemacht?" Natalie zuckte mit den Schultern. In der Tat konnte sich in den letzten fünf Jahren kein Mann dazu bereit erklären, sie zu treffen. Damals war sie zwanzig gewesen.
"Den Typen haben Ma und ich sorgfältig ausgewählt; er ist nicht so wie die anderen." Sie bezweifelte zwar, ob sie ihrer Schwester wirklich so viel Vertrauen in dieser Angelegenheit schenken sollte. "Ach, Natalie, wie lange schon bist du so eine Skeptikerin?"
"Hör zu, lass uns einfach nur diesen blöden Entkalker kaufen, vielleicht noch etwas Rotwein, danach schnell wieder nach Hause, wo du mich letzten Endes für mein tolles Date heute Abend richten darfst." Magdalena strahlte über beide Ohren, was Natalie ziemlich erfreute, denn das Letzte, was sie gebrauchen konnte, war Zoff mit ihrer Schwester, auch wenn dieser anzumerken war, dass sie ihrem Pseudooptimismus eher kritisch gegenüber stand.

Im Supermarkt verfluchte sie, dass sie keinen blassen Schimmer von Entkalkern hatte. Magdalena musste extra noch mal mit Elvira telefonieren, damit sie beide sich im Klaren waren, ob ein ausreichender Entkalker genügte oder einer für Kaffeevollautomaten. Natalie starrte die beiden Etikette der nun verhassten Entkalker an, weil sie darüber nachdachte, ob ihr es ähnlich wie bei dem Entkalkern ergehen würde. Wäre sie ein ausreichender Entkalker oder doch viel zu unreichend, weil ihr Gegenüber in ihr keinen Entkalker für Kaffeevollautomaten fand.
Genau genommen hatte sie eventuell Wichtigeres zu tun, als wie heute Abend einen voraussichtlich mittelmäßigen Abend in einem mittelmäßigen Restaurant zu verbringen, während zu Hause ihr neuester mittelmäßiger Artikel nur auf sie wartete, damit sie ihn vollendete. Sie freute sich mittelmäßig darauf, denn ihr Chef hatte ausgerechnet das unspannendste Themengebiet der momentanen Politik herausgegepickt, damit Natalie kaum Platz für Spekulationen blieb. Allerdings interpretierte Natalie nur gerne und spekulierte nicht, da sie der Meinung war, ihre Meinung gut - wenn nicht sogar sehr gut - begründen konnte.
Früher einmal wollte sie in die reine Politik, weshalb sie Volkswirtschaft und Politik studiert hatte, aber nun war sie nur in einem mittelmäßig gut bezahlten Job bei einer ganz und gar unbekannten Zeitung als Politikjournalistin tätig. Manchmal liebte sie die Arbeit dort. Meistens verdammte sie aber ihr Pech, ausgerechnet dort gelandet zu sein. Hingegen war sie noch jung; das konnte sich auch fix noch ändern.
"Wir brauchen einen für Vollautomaten", rief Magdalena und verwarf somit all die mittelmäßig überschaubaren Gedankengänge ihrer Schwester. Natalie sah ihre Schwester aussrucklos erschöpft unter ihren Gedanken an, um, den Blick wieder auf das Regal gewandt, eine Verpackung der A- Klasse herauszunehmen. Skeptisch beobachtete sie nocht nur das Preisschild. "Seit wann kosten Entkalker acht Euro neunundneunzig?!" Magdalena lachte herzlich und Natalie selbst konnte sich ein leichtes Grinsen nicht verkneifen.

"Mama sagte mir, der Typ sehe so aus, wie sie sich einen Schwiegersohn immer gewünscht beziehungsweise vorgestellt hätte."
"Demnach sieht er aus wie unser Vater", scherzte Natalie. Magdalena musste das Kämmen ihrer Haare unterbrechen, weil sie sich das Lachen nicht verkneifen konnte. "Gewisse Ähnlichkeit ist da, ja."
Fünf Stunden sind vorangeschritten, als sie wieder zurück Zuhause angekommen waren. Natalie saß ganz brav auf einem Stuhl im Badezimmer und begutachtete sich und ihre Schwester im Spiegel. Man konnte den beiden auf den ersten Blick ansehen, dass sie Geschwister waren und für Zwillinge waren sie mehr als nur ein paar mal gehalten worden. Beide hatten sie die schönen, widerspenstigen hellbraunen Locken ihrer Mutter vererbt bekommen. Dazu waren beide gleich groß; gerade so über die ein Meter fünfundsechzig Marke gekommen. Im Gesicht blieb die einzige Gemeinsamkeit dieselbe blaue Augenfarbe ihres Vaters, doch ansonsten waren die Gene bei Nase, Mund, und gar Gesichtsform wild durcheinander gewirbelt und dementsprechend kombiniert worden. Diesen sonderbaren Individualismus behielten ihre Gene bei, sodass die Jüngere selbstbewusst auftrat, während die Ältere meist etwas unbeholfen wirkte, wenn es um Kommunikation ging. Natalie wunderte sich meist gänzlich, weshalb sie Journalistin war, die lieber gerne vertieft in die Politik gehen wollte - absurde Ironie ihres Wesens.
"Was ziehen wir dir heute bloß an?" Magdalena kicherte, was Natalie ein Augenverdrehen entlockte. "Tu nicht so, als wäre meine Garderobe eine Katastrophe!" Den beiden entfuhr ein lautes Lachen, was sofort wieder zum Verstummen führte, da Elvira wieder schlief. "Ich werde schon noch beweisen, dass sie psychisch nicht in Ordnung ist", murmelte Magdalena. "Das musst du...", Natalie kam nicht weit, denn ihre Schwester hatte sich schon längst den Lippenstift gekrallt, den sie jetzt großzügig auftrug.
Kurze Zeit später, was einen Aufwand von ungefähr dreißig Minuten umfasste, saßen Magdalena und Elvira auf dem Bett der heute Abend verabredet Seienden. "Wie heißt der Typ eigentlich?", fragte Natalie, während sich nicht zwischen einem für April noch ziemlich frühen unifarbenen Sommerkleid und einer mit Blumenmuster bedruckten Bluse inklusive schwarzer Jeans entscheiden konnte. Während sie sich am Rande der Verzweiflung, die einerseits ihrer Entscheidungsunfähigkeit, andererseits ihrer Planlosigkeit über das Verhalten des heutigen Abends über galt, die Haare raufte, schaute Magdalena ertappt noch mal auf dem Datingportal nach. "Er heißt Mark", sagte diese trocken. "Twain oder was?" Elvira brach über ihren eigenen Witz in ein schrilles, beinah zu verrückt schallendes Lachen aus. Natalie konnte den Blick ihrer Schwester ausmachen, ohne ihn gesehen zu haben: hochgezogene Augenbraue und eine abweisende Haltung einnehmend. Diese antwortete mit einem lang gezogenen "Nein".
Natalie verlor behutsam Sekunde für Sekunde immer mehr den Verstand durch diese lästige Ahnungslosgkeit. "Was soll ich denn jetzt anziehen?"
Das Surren in der Küche hörte auf; Elviras kalkfreier Kaffee war fertig. Sie ging, um ihn zu holen und ließ die Schwestern allein. Magdalena stand ebenfalls auf, um ihrer Schwester das Sommerkleid vor den Körper zu halten. "Ja, zieh das an. Mit 'ner Feinstrumpfhose ist das selbst wettertauglich." Ihre Schwester traf mit ihren Entscheidungen meist immer ins Schwarze. Trotz alledem machte sie sich Sorgen wegen ihres Dates, welches anscheinend auf den Namen Mark hörte.

"Wirst du Bahn fahren? Oder doch Auto? Oder Fahrrad, dann sieht er, dass du dich um die Umwelt kümmerst oder so." Magdalena kritzelte irgendwelche Notizen auf einen Notizblock. Währenddessen lief ihre gemeinsame Lieblingsserie im Fernsehen. "Ich werde die neueste Folge verpassen. Hoffentlich ist es euer Mark wert." Sie wusste immer noch nicht, wie sie dem Abend gegenüber stehen sollte. Sie verkörperte eine Skeptikerin aus Überzeugung. Außerdem konnten zumindest viele aus eigener Erfahrung bezeugen, dass die Abende, auf denen man nichts hielt, einen nicht enttäuschen konnten.
"Ich werde Fahrrad fahren", sagte Natalie, mehr zu sich selbst, denn ihre Schwester war viel zu beschäftigt mit ihren Notizen. Sie wollte erst gar nicht fragen, was genau diese bezwecken sollten.
"Bis später, viel Spaß!" Natalie wollte sich gerade aus der Tür begeben, da verabschiedete sich Magdalena: "Ich wünsche dir auch viel Spaß und noch viel mehr Glück; du schaffst das schon!"
Mit einem Lächeln auf den Lippen verließ sie die Wohnung und bangte ein Viertel weniger um den Abend.

sonnenuntergangsorange (Clueso- Fanfiktion)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt