pausiertes Potenzial

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Hamburg, Sonnenaufgang, 07.04.2010

Thomas

Rosarotes Morgenlicht hüllte alles ein. Ein kühler Luftzug durchzog sein blondes Haar. Der Anblick erzeugte ein Kribbeln in seinen Fingerspitzen, wie es jedem Schreiberling bekannt sein sollte. Er müsste sich einen winzigen Augenblick nur gedulden. Was für ein immenses Pech, dass er die Ungeduld in Person war.
Es passte ihm gar nicht, jetzt auch noch von der Unpünktlichkeit in Person abhängig zu sein. Warten konnte er ebenso wenig ausstehen wie die Tatsache ihn, aber er gab sich alle Mühe. Die Sehnsucht erklomm ihn. Wie sehr er sich jetzt schon auf seine Heimat freute! Seinen Großeltern hatte er gestern Abend voreilig gen Nachmittag einen Besuch versprochen, nun krochen die verdrängten Zweifel hervor, ob das zeitlich alles funktionieren wollte, was er sich für heute vorgenommen hatte.
Zuerst einmal musste seine Begleitperson auftauchen, damit sie schleunigst die Autobahnstrecke von Hamburg nach Erfurt hinter sich bringen konnten. Hoffentlich hätte er dann noch etwas Zeit, um sich frisch zu machen, bevor es dann zu seinen Großeltern ging. Wie er sich kannte, bliebe er dort den ganzen Nachmittag, sodass beinah die Zeit nicht mehr ausreichen dürfte, bevor er pünktlich zu diesem Interviewtermin durfte, den er schon seit Monaten verschob. Ihm grauste es vor den Fragen, die indirekt vorwurfsvoll immer dieselbe Frage stellten: Wann kommt ein neues Album?
Vor zwei Jahren hatte er das letzte veröffentlicht. Diesen Zweijahresrhythmus konnte er für dieses nicht garantieren. Das bedrückte ihn mehr als alles andere. In zwei Tagen feierte er seinen dreißigsten Geburtstag, was er allerdings so ziemlich fern von sich halten wollte, aber irgendwie verfolgte ihn die Tage Daten mehr als gewöhnlich. Damit konnte er sich nicht zufrieden geben.
Ungeduldig mit dem linken Fuß tippelnd, fragte er sich, wo sein Fahrer blieb, da er zum Leidwesen aller immer noch nicht den Weg zur Fahrschule auf sich genommen hatte - für ihn stellte das jedoch kein Problem dar. Aus dem Holz der Geduld wurde er jedenfalls keineswegs geschnitzt. Wo trieb sich sein Fahrer nur herum?
Plötzlich schwang die Tür des Hotels auf und das langersehnte Gesicht, welches ihn so lange hat warten lassen, lächelte ihm frech entgegen. "So, Cluesn, auf geht's in die - zumindest deine - Heimatstadt!"
"Mal im Ernst, Livi, wo warst du?" Livienne war in etwa so etwas wie seine beste Freundin. Sie kam ursprünglich aus Utrecht, aber hatte Germanistik und das, was man den Fachbegriff für das Studieren von Niederländisch nannte, der ihm lediglich jedes Mal zu entfallen pflegte, in Jena studiert. Vor Jahren liefen die beiden sich einmal im Jenaer Cassablanca über den Weg und seit diesem Tag sahen sie sich mindestens zweimal im Monat und unternahmen sogar ein paar kleine Städtetrips wie diesen hier nach Hamburg. An und für sich wollten sie nur einen guten Freund besuchen, um ein paar kleine Konzerte zu spielen.  Man sah sich ja sonst nie.
"Ach, du kennst mich doch." Er konnte nur mit dem Kopf schütteln und ein wissendes Lächeln aufsetzen, denn er kannte sie wirklich. "Lass uns einfach schnell verschwinden, bevor der Typ merkt, dass ich mich davon geschlichen habe." Livienne kicherte, während sie ihren selbstverständlich orangefarbenen Koffer in ihren Kofferraum hievte, dabei nickte sie ihm mit einer Mischung aus Ungeduld und einer ungesund erscheinenden Abenteuerlust entgegen.

"Livi, du kannst ruhig etwas langsamer fahren", beschwichtigte er in keinerlei Weise ironischer Art, denn seine Freundin war wirklich eine rasante Raserin, wie sie  solche dieser Spezies in ihrem Freundeskreis zu nennen pflegten. "Im Gegensatz zu dir bin ich mir deines vollen Terminkalender bewusst. Jetzt fahr endlich zu, lammeling!" Ihr Niederländisch kam stärker durch, wenn sie wütend auf Hupen drückte oder generell fluchte.
Geschickt fedelte Livi ein neues Thema ein, sobald sie sich wieder ein wenig eingekriegt hatte: "Aber hast du Glück gehabt gestern mit der süßen Rothaarigen?"
Widerwillen verzog er die Lippen zu einem müden Lächeln, schüttelte daraufhin allerdings
schwermütig den Kopf. "Sie sah ihr einfach zu ähnlich. Selbst den geraden Pony trug sie genauso." Seufzend schaute er aus dem Fenster. An ihm zogen so viele Städte vorbei, in denen er tolle Konzerte gegeben hatte - und geben werden würde. Livi sagte nichts; sie hupte nur mit sich selbst um die Wette.
Livi wusste, dass es in seinem Leben nie so wirklich mit der Liebe funktionieren wollte, weshalb sie ihn wohl nicht darauf ansprach. Gelegentlich fragte er sich, ob alles nur daran lag, weil er damals nicht um jemand Bestimmten - die Definition
von "seiner" Einen - gekämpft hatte, aber mit Mitte zwanzig hatte er noch nicht daran gedacht. Nun waren seine Chancen verspielt und die Nächste war ihm abgesprungen. Ein erneutes Seufzen entfuhr ihm. Das alles drückte ihm zu sehr auf die Brust; Luft bekam er schätzungsweise lange mehr keine. Sehnsüchtig sah er dem Schwarm Vögel nach, die die Freiheit über ihren Köpfen genossen. Der Anblick brachte das Kribbeln in seinen Fingerspitzen zurück. Hastig kramte er im Handschuhfach nach seinem Notizbuch, welches er gestern Abend dort verstaut hatte. In bewundernswerter Geschwindigkeit legte er sich Worte zurecht, die ihm schätzungsweise schon immer auf der Seele brannten. Er fühlte sich leichter mit jedem geschriebenen Wort. Kaum ereilte ihn dieses Gefühl, kroch eine Unsicherheit an ihm hoch, die behauptete, dass das nur Einbildung wäre. Seine Unsicherheit verfluchte ihn und andersherum. Schließlich dachte er im Endeffekt wieder nur an sein verfluchtes Album, das simpel noch nicht erscheinen konnte. Eigentlich wollte er keine weiteren Gedanken daran verschwenden, doch die Möglichkeiten der Ablenkung sahen durchaus spärlich aus. Seine Gedanken kreisten um vergangene Tage. Er wusste, dass es eigentlich keinen Sinn machte, wenn er weiterhin irgendwelche Antwortmöglichkeiten auf längst vergangene Fragen, die er nie im Leben wieder gestellt bekommen würde, ausklügelte. "Denkst du, dass..." Er hielt inne, sobald er Livis Blick auf sich ruhen spürte. Seine Zunge wurde schwer wie Blei. In seinem Kopf baute sich ein riesiges Wirrwarr auf, für das nicht einmal eine Anleitung gab. Er seufzte. Nur das beiläufige Hupen konnte die Bauarbeiten unterbrechen.
Er hätte ein völlig anderes Leben gelebt, falls er sich je anders entschieden hätte. In letzter Zeit zerbrach er sich deshalb öfters den Kopf. Gerecht war es für keinen der beiden ausgegangen. Es schnürte ihm die Kehle zu, wenn er daran denken musste.
"Jetzt hör doch ein einziges Mal in deinem Leben auf, Szenarien zu überdenken, die du niemals mehr rückgängig machen kannst. Das ist nicht gesund, Cluesn." Livi klang zwar, als wolle sie einem kleinen Kind erklären, dass es vom Essen von zu viel Süßigkeiten Bauchschmerzen bekommen könne. Es half nicht wirklich. Das Bild seiner Jugendliebe schien sich in seine Netzhaut eingebrannt zu haben. Ihre schönen, brünetten Locken, die wie kleine Kringel sich um ihre herzigen Wangen legten. Ihr Name wagte keiner in seinem Freundeskreis laut auszusprechen, was generell das Absurdeste schien, das existierte, aber es war unsicher zu sagen, was in ihm passierte, wenn dieser Sachverhalt vorliegen sollte.
Seufzend wandte er seine Aufmerksamkeit wieder der vorbei fliegenden Landschaft zu. Die Melancholie, welche ihn heimsuchte, als könnte nur er ihr eine wirkliche Heimat spenden, entwickelte eine gewöhnte Sehnsucht nach dem Ungewissen. Manchmal sehnte er sich wirklich nach dem Gefühl des Verliebtseins. Schon seit einer gefühlten Ewigkeit war er nicht mehr verliebt gewesen. Irgendwie wurde er immer enttäuscht. Wie oft diese Emotion einen täuschen konnte, hatte ihn über viele Jahre hinweg enttäuscht. Seine Hände vors Gesicht schlagend, gab er es schlussendlich auf.

Den Rest der Fahrt dominierte eine angespannte Stimmung das Innere des Autos. Livi folgte zwar ab und an ihrem Temperament, aber auch sie blieb erschreckend ruhig.
"Danke fürs Heimfahren", verabschiedete sich Thomas, als sie ihn vor dem Haus seiner Großeltern ablieferte. "Absolut kein Problem, lag ja auf dem Weg." Tatsächlich konnte ihn diesen Kommentar etwas aufbauen. Thomas war bereits ausgestiegen, wollte gerade seinen Koffer aus dem nach diesem benannten Raum holen, als ihm Livi ein paar Worte ans Herz legte: "Cluesn, mach dir keinen Kopf um das Album oder so. Es hat keinen Sinn, den Hintern hoch bekommen zu wollen, wenn man immer nur das Muss als Erwartung sieht. Du brauchst Inspiration. Du musst wieder unter Leute und dich nicht immer in deinen vier Wänden mit denselben Fragen und demselben Soll beschäftigen. Glaub mir, wenn du wieder mehr unter Leute gehst, findest du ja vielleicht sogar das, wonach du solange suchst. Vertrau mir."
Überrascht blickte er seine Freundin an. Ebenso überrascht war er über die Wahrheit ihrer Worte. In zwei Tagen hatte er Geburtstag. Dieser Gedanke überkam ihn erst oberflächlich, saugte sich dann aber an allen folgenden fest, sodass er keinen Überblick mehr über irgendwelche gelangen konnte.
"Du hast ja recht, aber..." Livi schnitt ihm mit erhobener Hand das Wort ab.
"Ich hab recht. Basta!"
Der Versuch ihr eine Grimasse zu schneiden, gelang überraschenderweise.
"Jetzt hau schon ab; ich kann so viel recht haben, wie ich will, am Ende hälst du dich ja eh nicht dran..." Es traf ihn erneut, wie sehr ein Mensch doch recht haben konnte. "Danke, Livi. Auch für deine Ratschläge."
"Nichts zu danken. Irgendwer muss dir ja den Kopf zurecht rücken." Sie zwinkerte. "Dann werde ich mal. Wir sehen uns." Sie nickte, gedanklich wieder ganz woanders. Er lächelte. Zum Abschied klopfte er aufs Autodach, nachdem er die Tür zugeschlagen hatte.
Nur noch zwei Tage, dann war er dreißig und immer noch nicht weiter, dachte er sich, so wie er den Weg zur Haustür seiner Großeltern entlang lief. Allerdings verflogen all diese Gedanken, sobald er in das Gesicht seines Großvaters Horst blickte. Er hatte doch irgendwie ein Zuhause.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Jan 18, 2020 ⏰

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