Vergessen

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Mein Körper sprang schweißgebadet auf. Wieder Mal hatte ich einen Alptraum. Der Alptraum, der mich seit Wochen plagte. Er fing jedes Mal gleich an. Ich befand mich in einem großen, gärigen Haus, das in einer einzigen Finsternis ruhte. Jeder einzige meiner Schritte machte unberuhigende Geräusche, die mich nur noch mehr beklemmend fühlen ließen.

Selbst die Taschenlampe, die ich anscheinend bei mir hatte, brachte nichts, dadurch dass sie immer wieder für ein paar Sekunden aussetze und mich in der Düsternis alleineließ. Außerdem hatte ich das Gefühl, dass mich jemand beobachtete und immer näher kam, wenn ich gerade nichts sehen konnte. Diese Person kam so Nah, bis ich ihren Atem an meinem Nacken spürte und es mir
Gänsehaut bereitete. Danach wachte ich meistens auf; Herzrasen und mit der Befürchtung, nur knapp meinem Tod entkommen zu sein.

Das seltsame ist, ich hatte diesen Alptraum nur zur Weihnachtszeit und dann nicht mehr. Als wäre
ich verflucht, diese Zeit nicht genießen zu dürfen. Als würde man mir irgendwas sagen wollen.

Wieder sprang ich aus meinem Schlaf. Schweißperlen tropften meine Stirn runter und fanden ihren Weg auf meine schon nasse Bettdecke. "Verdammt, kann ich nicht mal eine Nacht durchschlafen", ärgerte ich mich, während ich gleichzeitig probierte mein Herz zu beruhigen. Mein Blick wanderte zu meinem Fenster, an dem eine rotleuchtende Lichterkette hing, die mich einmal tief durchatmen
ließ. "Es ist noch mitten in der Nacht", dachte ich als mir im selben Augenblick bewusst wurde,
dass ich nicht mehr einschlafen könnte.

Noch mit müden Augen zog ich mir eine Hose und eine Jacke an, um einen kleinen
Nachtspaziergang zu machen. Das einzige, was mir etwas Trost spendierte und mir wieder leichte
Hoffnung gab. Die Stille auf den Straßen und das kalte Licht der Laternen, eine phänomenale
Atmosphäre, die ich zu schätzen wusste.

Nach einigen Minuten kam ich am Rand der Stadt an, der in einen opaken, mysteriösen Wald
mündete. Am Tag war er ein beliebtes Ziel für Hundebesitzer und Naturliebhaber, aber nachts gab es keine Spur von irgendeiner Menschenseele. Eigentlich machte mir dieser Ort Angst, aber in
dieser Nacht packte mich meine Neugier und ich ging hinein in die Schwärze. Sie verschlung mich
und nach nur wenigen Metern konnte ich nicht einmal mehr meine eigenen Hände vorm Gesicht sehen.

Laute kamen von allen Richtungen, sie erschlugen mich förmlich und vernebelten meine Sinne. Die Angst gewann letzten Endes doch Überhand und somit rannte ich so schnell ich konnte. Ich hatte kein Ziel, ich wollte einfach nur fliehen. Bis ich irgendwann über eine Wurzel stolperte und einen Hügel runterfiel, der mich zu einer Lichtung brachte. Mitten auf der Lichtung war eine eminente
Behausung, die ausgesprochen morsch aussah.

Es dauerte diverse Sekunden bis ich realisierte, dass das Haus, das aus meinem Traum war. Meine
Augen weiteten sich gewaltig und mein Atem fing an zu stocken. Das könnte doch niemals möglich
sein.

Ich machte die noch wenigen Schritte dorthin, um mich dann umzugucken. Selbst wenn die Fasade kaputt und zerbrechlich aussah, man hatte nicht das Gefühl, dass es unstabil sei, ganz im Gegenteil. Deswegen wagte ich mich die Stufen bis zur Eingangstür hoch und auch wenn ich wusste, dass dort
längst niemand mehr wohnen würde, aus Anstand und Höflichkeit betätigte ich die Klingel trotzdem. Es ertönte eine dumpfe Melodie, die mir sehr vertraut vorkam.

"Wer zum Teufel benutzt Weihnachtsmusik für eine Klingel?“, wunderte ich mich, doch
meine Gedanken wurden sogleich von der sich selbstöffnenden Tür unterbrochen. Sie machte ohrenbetäubende Geräusche, die mich zusammenzucken ließen.

Da stand ich nun, zusammengekrümmt vor einem Haus mitten im Nirgendwo, bei dem sich Türen selber öffnen konnten. Klang wie aus einer schlechten Horrorgeschichte.

Ich streckte meinen Kopf durch die Tür, um zu gucken, ob da jemand war. Doch mein Versuch blieb erfolglos. Erstens konnte man wegen der Dunkelheit nur kaum was erkennen
und zweitens wäre es auch sehr seltsam gewesen, wenn dort jemand gestanden hätte. Alles,
was ich sah, war eine Taschenlampe, die auf dem Boden auf einem zerfressenen Teppich
lag. Nachdem ich nach ihr griff und mit ihr erstmal ins Haus leuchtete, kam eine Art Lachen
aus dem oberen Stockwerk.

Ich erschrak und ließ die Taschenlampe sofort fallen. Ein hohler, dumpfer Knall entstand
und das Lachen hörte schlagartig auf. „Mist, es weiß, dass ich hier bin“, mein ganzer Körper
zitterte. Meine Gedanken sprangen die ganze Zeit zwischen "Ich muss hier sofort weg“ und
"Ich muss wissen, woher das kam“ her. Letzten Endes gewann wieder meine Neugier.

Mit zitternden Beinen und schwitzigen Händen machte ich mich auf den Weg ins Haus und
in sein Obergeschoss. Einige Bilder, die an den Wänden hängen, und kaputtes Spielzeug
das überall verteilt auf dem Boden lag, kamen mir bekannt vor. So bekannt, das ich, bevor
ich auch nur den nächsten Raum betrat, wusste, was ich wo finden würde.

Nachdem ich einige Minuten durch das Erdgeschoss geirrt war, stand ich nun endlich vor der Treppe, die nach oben führte. Das Licht der Taschenlampe reichte jedoch nicht bis nach ganz oben, deswegen konnte ich nicht erkennen, ob dort etwas war. "Jetzt oder nie“, flüsterte ich mir zu und machte den ersten Schritt. Die ganze Treppe fing an zu knartschen. Aus Furcht kniff ich meine Augen zu und ging die restlichen Stufen blind. Als ich dann oben angekommen war, sah ich nur einen langen, schmalen Gang, der unendlich schien.

Aufeinmal fing die Taschenlampe an zu flackern und ging immer wieder aus. "Nicht jetzt, du Scheißteil!", schimpfte ich, doch natürlich brachte es nichts, "muss wahrscheinlich daran
liegen, dass ich dich fallengelassen hab."

Schließlich machte ich mich weiter auf den Weg, auch wenn mir das ständig verschwindende Licht ein mulmiges Gefühl gab. Immer wenn es für einen kurzen Moment ausging, hatte ich diese Vorahnung, dass mich gleich etwas packen und verschleppen würde.
Als wäre etwas direkt hinter mir, würde mich beobachten und auf den richtigen Augenblick
warten.

"Noel", eine tiefe Stimme erklang hinter meinem Rücken und flüsterte meinen Namen. Ich versteifte und konnte nur noch schwer ein und aus atmen. Mein Körper war taub, doch die Angst, die ich sonst nur hatte, wenn ich aus meinem Alptraum erwachte, durchfloss meine Adern und ließ sie gefrieren. "Dreh dich um, Noel", befahl die Stimme.

Langsam drehte ich mich um und erblickte einen großen Mann, der einen blutroten, zerfetzten Anzug trug und einen langen, weißen Bart hatte. Außerdem trug er eine Mütze, die ihm schief auf dem Kopf hing. Seine Augen sahen tot und trostlos aus, aber dennoch
starrten sie mich voller Intention an.

"Wer... wer bist du?", fragte ich leise und immer noch unter Schock.

"Erkennst du mich wirklich nicht?", mein Blick flog nochmals über sein Äußeres, aber mir wurde nicht bewusst, was er meinte, „Ich bin der Weihnachtsmann.“ Plötzlich leuchtete es mir ein. Die Alpträume zur Weihnachtszeit, die Weihnachtsmusik, die kaputten Spielzeuge. Alles deutete auf ihn, doch ich war zu blöd, um die Zeichen zu erkennen.

"Aber du existierst nicht", nun klang meine Stimme selbstbewusster, doch dies bedeutete nicht, dass ich meinen Augen trauen würde. Schließlich könnte ich immer noch unter
Schock stehen und Realität mit Einbildung verwechseln.

"So denkt ihr alle", er blickte auf den Boden und ich bemerkte, wie eine einzelne Träne seine Wange runterlief, "Ich existiere, ihr glaubt nur nicht mehr."

Er ging einige Schritte an mir vorbei zu einer Tür und machte sie auf, gefolgt von Handsymbolen, die meinten, dass ich ihm folgen sollte, was ich auch ohne zu zögern tat. Nun befanden wir uns in einem gemütlichen Raum, in dem ein großer Karmin war. Zusammen setzen wir uns auf die Couch und er bot mir heiße Schokolade an. Dort erzählte
er mir von den Kindern, die mit jedem Jahr mehr aufhörten an ihn zu glauben, während ich
genüsslich an meiner Schokolade nippte.

"Eltern geben sich nicht einmal mehr Mühe, um ihren Kindern von mir zu erzählen. Sie
kaufen einfach die Geschenke selbst und vergessen mich dabei komplett", er hiet Inne und
brachte ein leichtes Seufzen hervor. "Kannst du dir vorstellen, wie sich das anfühlt?"

Ich schüttelte meinen Kopf, woher sollte ich auch wissen, wie sich sowas anfühlt. Ich war
weder volljähring noch war ich ein Märchen für Kinder. "Aber ich weiß, wie es ist alleine
zu sein", antwortete ich, "Meine Eltern sind Weihnachten nie zu Hause. Sie müssen immer
arbeiten und haben deswegen kaum Zeit für mich."

Auf einmal spürte ich seinen Blick auf mir. Er hatte Mitgefühl, das sah man ihm an. Dann ohne nur die leiseste Ahnung zu haben, umarmte er mich und streichelte sanft meinen Kopf. "Noel, wir können Weihnachten zusammen verbringen", ich spürte sein Lächeln, das voller
Wärme war, "Aber natürlich nur, wenn du möchtest."

Selbst ich musste lächeln, was ich schon sehr lange nicht mehr getan hatte. "Sehr gerne, Weihnachtsmann, sehr gerne."

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