Herr Brokkoli hatte die Schnauze endgültig voll. Seine Wohnsituation ist ihm gewaltig über sein Röschen gewachsen. In einem Lebensmittel-Geschäft, in dem er von Menschen nur liegengelassen und durch Industriefraß ersetzt wurde, wurde es ihm zu viel. Die Menschen interessierten sich nicht für ihn. Wieso war er nicht so beliebt wie stark verarbeitete Lebensmittel? Er machte als Brokkoli doch alles richtig und wurde dennoch verstoßen. Wie konnte es sein, dass die Menschen seine Natürlichkeit nicht wertschätzten und stattdessen Lebensmittel bevorzugten, die erst durch zahlreiche komplizierte Herstellungsprozesse zu dem wurden, was sie jetzt sind?
Die Menschen mochten zum Beispiel die Zuckerrübe erst, als sie zu Zucker verarbeitet wurde. Der Rübe hat man alles gestohlen. Die Ballaststoffe, die Vitamine, die Mineralstoffe, die Farbstoffe. Bis am Ende die Disaccharide übrig blieben, die die Menschen so sehr lieben. Die Zuckerrübe dahinter wird vollkommen vergessen. Können die Menschen nicht einfach das ganze Nahrungsmittel nehmen, als lediglich einen Teil davon? Mutter Natur hat sich doch bestimmt etwas dabei gedacht, die Nahrung mit all ihren Bestandteilen auszustatten, aus denen sie nun besteht.
Man nimmt doch seine liebsten Personen auch so wie sie sind, mit all ihren Eigenschaften und sucht sich nicht nur die angenehmsten heraus, um sie die Macken anschließend wegzuwerfen.
Herr Brokkoli hatte Angst davor, ihm könne genau das passieren, was anderen Nahrungsmitteln davor angetan wurde. Er wollte den Reduktionismus nicht am eigenen Leibe spüren müssen. Deshalb musste er dringend nach einer Lösung suchen, um nicht wie die vielen Zuckerrüben oder Getreidekörner zu enden. Getreidekörner mussten am meisten unter den Experimenten der Zweibeiner leiden. Herr Brokkoli hörte, dass ihnen die Haut am lebendigen Leibe abgezogen wird und ihr Mehlkörper zu reiner Stärke vermahlen wird. Der kleine Baum hatte nun die Aufgabe, sich einen Ort zu suchen, an dem er so lange verweilen kann, bis er von jemandem gegessen wird, der alles an ihm schätzt. Seinen Kohl-Geschmack, seine leuchtend grüne Farbe, seine Form, die an einen winzigen Baum erinnert, seine vielen Vitamine, die den zukünftigen Brokkoli-Esser stärken werden, seinen frischen Gemüse-Duft, seinen Proteingehalt, der wegen der übermäßigen Präsenz von Fleisch so unterschätzt wird und diese Menge an Wasser, die ihn nicht nur zu einem hilfreichen Mittel gegen Hunger, sondern auch gegen Dehydration macht.
Er überlegte nicht lang und fing an, sich außerhalb des Geschäfts sein eigenes Haus zu bauen, das währenddessen seine Form annahm. Den Garten pflegte und hegte er tagsüber, um seine Zeit bis zum Gegessenwerden sinnvoll zu nutzen. Auf der Graslandschaft tobte er sich aus, bis er abends müde ins Bett fiel. Die Sorgen überkamen ihn meist nachts, wobei er ins Grübeln verfiel. Er befand sich noch in seiner frischen Zeit, was heißt, dass er besser schnell von jemandem gegessen werden muss, bevor er unschön braun wird und einen verdorbenen Geschmack entwickelt.
Eines Tages wachte er mit dem Gedanken auf, er würde sicher nicht mehr gegessen werden, weil er nun schon braune Stellen bekam. Seine Trauer überdeckte all seine positiven Empfindungen, aber eigentlich wollte er nicht aufgeben. Ein Fünkchen Hoffnung lebte noch in ihm weiter, bis ihn jemand an diesem Tag in die Mülltonne warf. Er war mit seinen Kräften am Ende und schlief ein.
Ein sanfter Griff um seinen Körper weckte ihn auf und er schaute in das freudige Gesicht eines Obdachlosen, der alles an ihm schätzte. Sogar seine braunen Stellen. Endlich wurde er gegessen. Mit Genuss. Von einer Person, die ihn wirklich mochte.
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Angst vor dem Reduktionismus
Short StoryIst es wirklich nötig, dass wir immer nur auf bestimmte Eigenschaften reduziert werden müssen? Kann man nicht einfach mal mit der Gesamtheit unseres Charakters zufrieden sein?