REVERIE
Während ich eine Stufe nach der anderen nach unten nehme, binde ich meine hellen Haare zu einem lockeren, unordentlichen Zopf zusammen.
In der Küche sitzt bereits Dad am Küchentisch. Eine aufgeschlagene Zeitung verdeckt sein Gesicht. Ich habe eigentlich sowieso nichts anderes erwartet.
»Guten Morgen«, mache ich mich bemerkbar, ehe ich zum Kühlschrank gehe und dessen Inhalt begutachte.
»Morgen«, erwidert die Zeitung.
Die Kuchenreste von vor zwei Tagen ziehen meine volle Aufmerksamkeit auf sich. Ob man das noch essen kann? Bestimmt.
Mit einem Stück Schokoladentorte und einer Gabel in den Händen begebe ich mich zu dem Tisch, an dem auch Dad sitzt, und nehme schließlich am anderen Ende des Tisches Platz.
Ich schiebe mir eine beladene Gabel in den Mund und blicke zu der Zeitung auf der anderen Seite des Tisches. Der Kuchen ist noch einwandfrei, und die Titelseite der Zeitung ziert das Bild einer glücklichen Familie.
Ein Bild von unserer Familie. Mom, Dad und ich.
Unsere Lächeln sind makellos, die Kleidung ist frisch gebügelt und knitterfrei, und die Haare liegen dort, wo sie liegen sollen. Es macht den Schein, als wären wir die perfekte Familie. Trotz Dads erfolgreicher Firma, in die er all seine Energie steckt, hat er noch genügend Zeit für seine wundervolle Familie.
Pure Perfektion. Das denkt man zumindest, wenn man uns von außen betrachtet. Von außen perfekt, wie fast alle Menschen hier.
Doch vieles wirkt nach außen hin anders, als es eigentlich ist.
Vielleicht will ich gar nicht so perfekt sein, wie es in der Zeitung den Eindruck macht. Aber muss ich es nicht sein, um hier glücklich zu sein? Ist es nicht das, was uns alle Türen in der Zukunft öffnet? Das ist es doch, was man uns schon als Kind beigebracht hat.
Perfektion bedeutet Erfolg, Macht und Zufriedenheit.
»Reverie, iss das nicht.« Mom tritt auf ihren hohen Schuhen in die Küche ein. »Du verdirbst dir noch den Magen damit.«
Ich verdrehe genervt die Augen, selbst wenn sie es eigentlich gut meint. Sie sieht es glücklicherweise nicht. »Der ist noch einwandfrei, Mom. Willst du etwas?« Ich halte ihr den Teller mit meiner Gabel und dem Kuchen entgegen.
Sie nimmt den Teller an sich und lässt den Kuchen dann einfach in den Müll fallen. Auch die letzten Reste aus dem Kühlschrank landen bei meinem bereits angegessenen Stück des Kuchens. Okay, das habe ich jetzt tatsächlich nicht erwartet.
»Hallo, ich wollte das noch essen«, rufe ich empört, als ich das traurige Geschehen mitansehen muss.
»Du wirst von deinen Essgewohnheiten noch krank«, bekomme ich die Antwort auf ihr Handeln.
Aber natürlich doch.
»Der Kuchen war doch noch gut«, sage ich. »Wir müssen doch nicht immer alles wegschmeißen, wenn du meinst, dass es abgelaufen ist.«
Mom geht zu der Kaffeemaschine. »Auf der Verpackung steht nicht umsonst ein Haltbarkeitsdatum.«
»Das heißt aber nicht, dass man es fünf Tage vorher entsorgen muss und dann neu kauft, um es dann wieder wegzuschmeißen. Das ist dann doch die totale Verschwendung, Mom.«
Ohne auf eine weitere Aussage, die eh überflüssig sein würde, stehe ich auf. Ich habe keine Lust auf eine weitere Diskussion, denn ich weiß, wie das ausgehen würde. Ich würde sehr sicher irgendwann einknicken, weil sie so auf mich einreden würde, dass ich mich schlecht fühle, überhaupt eine Diskussion gestartet zu haben. Ein vorzeitiger Abbruch ist also eine hervorragende Lösung, nicht wahr?
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The Way She Smiles
RomanceBand 1 der The Way Your Are Reihe Leseprobe. 2024 im Zeilenfluss Verlag Wenn die Sehnsucht nach Freiheit die Fesseln der Perfektion sprengt. Reverie ist schön, reich, wohlerzogen ... und todunglücklich. So sehr sie sich auch bemüht, die perfekte Toc...