Von Tag zu Tag

Wunschdenken

Ich kann mich noch gut an einen Abend erinnern, an dem du mich an dein Ich von Früher erinnert hast. Es war Samstag, und du warst noch mit ein Paar Freunden von der Uni unterwegs, hast aber versprochen, früh nach Hause zu kommen, damit wir noch zusammen einen Film gucken können. Also wartete ich auf dem Sofa darauf, dass du durch die Tür kommst, in meinen bequemsten Sachen und mit einem unordentlichen Dutt auf dem Kopf. Ich hatte ein Buch auf dem Schoß – in letzter Zeit interessierte ich mich für Literatur -, und hob meinen Kopf erst, als die Haustür mit einem Knallen aufflog. Du tauchtest im Türrahmen auf, die Haare zerwühlt und mit glühendem Gesicht, und du hattest wieder diesen Ausdruck in den Augen, wie damals, als du dich in mich verliebt hast.

 Ich ließ mein Buch sinken und wollte etwas sagen, doch du warst schon über mir und hast mich geküsst. Für einen Augenblick konnte ich in deine Augen sehen, und sie waren gerötet und deine Pupillen waren riesig. Ich habe keinen weiteren Gedanken daran verschwendet, denn du hast nach Minze und Leidenschaft geschmeckt und ich habe mich in dir verloren, ließ das Buch achtlos zu Boden fallen. Denn du sahst mich endlich wieder so an, auf diese Art, die mir das Gefühl gab, etwas Unglaubliches, Einmaliges zu sein. Als wäre ich alles, was du suchst, alles, was du brauchst. Deine Lippen waren hungrig, und deine Hände waren es auch, so wie damals. Vielleicht war es genau dieser innerer Hunger, der mich an dir so fasziniert hat. Ich machte mir immer gern Glauben, dass ich es war, wonach du hungertest, was du brauchtest. Dass ich genug war, um deinen Hunger zu stillen, um dich zu halten. Es wurde mir erst viel später klar, dass ich das nicht tat. Du brauchtest mich nicht zum Stillen deines Hungers, sondern um dich genug zu beschäftigen, dass du ihn vergaßt. Er lauerte immer in den hintersten Winkeln deines Verstandes. Und als ich dann nicht mehr genug war, hast du an anderen Ecken gesucht.