Prolog

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Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach.

Welch fürchterliches Sprichwort. Wer sich das ausgedacht hat, gab sich offensichtlich mit dem Wenigen zufrieden. Ihm fehlte es an Ehrgeiz, er würde nie nach den Sternen greifen. Eine wenig anzuerkennende Eigenschaft, wie sie fand.

Ging es nicht eher um Alles oder Nichts? Auge um Auge? Zahn um Zahn? Gleiches mit Gleichem zu vergelten?

Leider verstanden dies die wenigsten.

Die meisten Menschen scheuten Konfrontationen jeder Art. Gaben sich mit weniger zufrieden, um einer Kollision aus dem Weg zu gehen.

Sehr oft überlegte sie, ob sie anders war; warum ihre Gedanken und Empfindungen andere Wege nahmen, sie andere Maßstäbe ansetzte, als die meisten Menschen. Diese Überlegungen verwarf sie jedoch jedes Mal nach kurzer Zeit wieder.

Nein, es gehörte zum Sinn des Lebens, den Grundsteinen des gemeinsamen Zusammenlebens, wenn derjenige bestraft wird, der einen Fehler begangen hatte. Wer anderen Menschen Schaden zufügte, sie verletzte, wer gegen gesellschaftlich anerkannte Konventionen verstieß, derjenige musste bestraft werden. Am Ende des Tages ging es um Vergeltung. Sonst nichts.

Man musste nicht die bekannten Philosophen wie Kant oder Hegel studiert haben, um diese einfache Prämisse des Lebens und Zusammenlebens zu beherrschen. Um zu wissen, wo der Sinn und Zweck einer Bestrafung lag.

Die heutige Praxis sah allerdings anders aus. Auch das wußte sie.

Es wurde abgewogen. Es ging um Opportunismus. Um Verhältnismäßigkeit. Der Gedanke an Rache, an Gerechtigkeit und Vergeltung geriet immer mehr in den Hintergrund.

In Strafprozessen wirkte man auf den Angeklagten ein, ein Geständnis abzulegen. Um das Verfahren zu verkürzen, Opfern die Aussage zu ersparen, alles zu vereinfachen. Schmackhaft gemacht wurde es dem Angeklagten mit in Aussicht gestellten, nicht unwesentlichen Vergünstigungen bei der Strafe. Nicht selten ging der Hauptverhandlung eine kleine Besprechung im Richterzimmer voraus, um mit der Verteidigung und anderen Verfahrensbeteiligten über diese Punkte zu verhandeln: Wenn der Angeklagte geständig wäre, könnte das Gericht darüber nachdenken, ihm nur eine Bewährungsstrafe zu geben. Man würde ihm entgegen kommen. Das Opfer hatte dabei wenig Mitspracherechte.

In Zivilprozessen wog man Prozessrisiken ab, stellte das Pro und das Contra einer Klage gegenüber. Machte es Sinn, zu klagen? Was kam im besten Falle raus, was drohte schlimmstenfalls? Viele Verfahren wurden durch Vergleiche beendet. Beide Parteien steckten ihre Ansprüche ein Stück zurück, gaben sich mit weniger oder wenig zufrieden und redeten sich die Entscheidung mit dem Prozessrisiko und der Verhältnismäßigkeit schön.

Der Spatz in der Hand.

Sie war es so leid. Jemand mußte büßen. Koste es, was es wolle!

Vergeltung!

Rache!

Mit Papier und Stift saß sie an dem ausladenden Esstisch in ihrer wunderschönen Küche und schaute gedankenverloren in den kleinen, aber sehr beschaulichen Garten. Der Gärtner war erst heute Vormittag da gewesen. Hatte die Hecken und Büsche beschnitten. Ein riesiger Walnuss-Baum ragte hinauf in den Regen verhangenen Himmel. Ein Rotschwänzchen saß auf der Balustrade, die die Terrasse umgab und schien sie anzuschauen. Plötzlich flog es auf und verschwand in einem kleinen Loch in der Hecke zum Nachbarn. Ein winziges Loch. Sie hatte es vorher nicht bemerkt und auch jetzt, war es zu klein, um offensichtlich zu sein.

In diesem Moment kam ihr eine Idee.

Verrat: Dublin-KrimiWhere stories live. Discover now