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Ein undefiniertes Glucksen dringt aus meiner Kehle, als mir Tia unter dem Tisch ein Foto von Frau Weidn und Babette zeigt, das bei unserer letzten Schulfeier gemacht worden sein muss. Es zeigt sie in einer, sagen wir, recht unvorteilhaften Position während Frau Weidn verzweifelt versucht, Babettes Minikleid an seinem rechtmäßigen Platz zu halten. Nur mit Mühe ist es mir möglich, nicht sofort loszuprusten und damit den diabolischen Zorn Herrn Raus auf mich zu ziehen. Aber unser Biologielehrer würdigt uns keines Blickes und widmet seine Aufmerksamkeit offensichtlich lieber Janes Dekolleté. Tia und ich wechseln uns vielsagende Blicke, denn wir alle haben schon einmal etwas von diesem Gerücht gehört. Dieses Gerücht, dass einfach nicht totzukriegen ist, weil es vielen als das Spannendste erscheint, was seit Langem hier passiert ist, denn es geht um verzweifelte Liebe, tiefes Unglück und brennende Leidenschaft. Also alles, was einen richtig schlechten Dreigroschenroman ausmachen würde.
Vor ein paar Jahren hatte sich im Dorf eine regelrechte Tragödie ereignet. Nina Behring, eine Schülerin, die damals, wie wir heute, die zehnte Klasse besuchte, war plötzlich schwanger geworden, obowohl niemand etwas von einem möglichen Lover gewusst hätte. Es war bekannt, dass Herr Rau sie immer ein wenig bevorteilte, aber es ist ja nichts Ungewöhnliches wenn ein Lehrer Lieblingsschüler hat. In jedem Fall war plötzlich diese 16-Jährige ohne Freund oder bekannte Affäre schwanger. Verdacht wurde nur gegen Herrn Rau gehegt, weil sie ungewöhnlich oft am Abend von ihm Nachhilfeunterricht erhielt. Wer weiß... vielleicht war der praktische Anteil ja etwas zu hoch. Bei diesem Informationsstand mag man sich fragen, wo daran die Tragödie ist, aber man muss wissen, dass Ninas Familie streng religiös war und Nina dadurch immer etwas gehemmt wirkte. Als ob man bestrafen würde, falls sie nicht spurte. Irgendwann konnte sie ihre Umstände nicht mehr verheimlichen und wenige Wochen nachdem sie aufgehört hatte, absurd weite T-Shirts zu tragen, wurde sie tot am Ufer des Baggersees aufgefunden. Manche sagten, es sei Selbstmord gewesen. Mit Zyankali. Andere sagten, sie wurde erdrosselt und wieder die Nächsten, meinten, man habe sie erstochen. Seit diesem Vorfall nimmt kein Mädchen, das noch bei Verstand ist Nachhilfeunterricht bei Herrn Rau. Die Polizei schweigt sich über die Todesursache aus und keiner weiß, wer verdächtig ist und wer nicht. Nur, dass noch ermittelt wird, das steht fest.
Ich bemerke, dass ich, während ich darüber nachdenke, Augen auf mein Blatt zeichne. Traurige, dunkle Augen. Ninas Augen. Als ich aufblicke, steht Herr Rau genau vor unserem Tisch. „Reya? Geht es dir gut? Hast du meine Frage überhaupt gehört?", fragt er und schaut mich halb spöttisch, halb mit gespielter Besorgnis an. „Äh... ˋtschuldigung. Können Sie die noch mal wiederholen?", frage ich verlegen und blicke mit einem gequälten Lächeln an ihm hoch. „Warum ist es so schwierig, ein effektives Heilmittel gegen die meisten Krebserkrankungen zu finden?", wiederholt er die Frage gelangweilt. „Weil Menschen blind sind", antworte ich mit leiser Verbitterung in der Stimme. „Falsch", erwidert er barsch und meint: „Dann lass mich mal anschauen, was dich so vom Unterrichtsgeschehen ablenkt, dass du nicht mal die Frage beantworten kannst, die ich vor einer halben Minute erklärt habe!" Mit diesen Worten schnappt er sich meinen Block und hält ihn mit ausgestrecktem Arm vor sich, während er mit kritischem Blick meine unzähligen Werke betrachtet. Meine Klasse kichert wegen meiner peinlichen Situation, doch ich bin die Einzige, die sieht, wie seine vor Spott triefende Miene verrutscht und für einen Wimpernschlag eine so tiefe und quälende Trauer auf sein Gesicht tritt, dass mein Herz einen Schlag aussetzt. Sein Blick wandert von Ninas Augen zu mir und mein Mund ist auf einen Schlag wie ausgetrocknet. Der sonst so kühle, spöttische und überlegene Blick, den er sonst aufzusetzen pflegt, ist einem gewichen, der mich in seiner Unaufgesetztheit schockiert. In ihm liegt Schmerz. Ich hätte nie gedacht, dass der arrogante und ungerechte Jehan Rau überhaupt Gefühle haben könnte. Erst recht nicht solch starke.
Aber er fasst sich und schon steht wieder die Fassade des „überlegenen Intellektuellen". „Vielleicht solltest du der Biologie die Kunst vorziehen. Du sagst, die Menschen seien blind? Nun ja... diese Augen jedenfalls nicht." Die ganze Klasse ist totenstill, als er meinen Block wieder vor mich auf den Tisch legt und , scheinbar unberührt, mit seinem Unterricht fortfährt, während er mich zutiefst verwirrt zurücklässt. „Was war das denn?", flüstert Tia mir zu, während ich noch auf die sehenden Kuli-Augen Nina Behrings starre. „Zuerst staucht er dich zusammen und macht sich über dich lustig, nur um dich dann zu loben?!" Ich schaue sie unverwandt an. „Ich weiß auch nicht."

Blinding LightsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt