III

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Eigentlich fällt es mir freitags am leichtesten, aufzustehen. Aber seit gestern fühlt sich alles so fremd an, dass ich fast meinen könnte, ich lebte das Leben einer anderen Person. Heute haben wir wieder Biologie. Als ich aus dem Haus trete, steht Tia bereits am Gartentor. „Was ist denn los? Du bist doch sonst nie so spät dran?", fragt sie besorgt, was ich mit einem müden Lächeln und einem Kopfschütteln quittiere. „Faust hatte mich fest in der Hand", erwidere ich. „Ja. Das merke ich. So schlechte Wortspiele machst du nur unter Schlafentzug", meint sie lachend und wir setzen uns plaudernd in Bewegung.
Zehn Minuten später betreten wir die heiligen Hallen der Bildung und trennen uns kurz voneinander. Bis zum Beginn der ersten Kunststunde sind es nur noch ein paar Minuten und unsere Schließfächer sind auf unterschiedlichen Etagen. Nach einem kurzen Blick auf meine Armbanduhr, haste ich die Stufen zur ersten Etage hinauf und biege mit einem weiteren, völlig unnützem, Uhrenvergleich um die Ecke in die Pausenhalle mit den Schließfächern. Nur und mit voller Wucht in eine überaus angemessen gekleidete und parfümierte Brust zu rennen.
Die Wucht des Aufpralls lässt mich und die andere Person ein paar Schritte zurück stolpern. Etwas benommen sehe ich auf, um festzustellen, bei wem ich mich entschuldigen muss und schaue in das überraschte Gesicht meines Biologielehrers. Die Überraschung auf seinen Zügen weicht allerdings recht schnell seinem überheblichen, spöttischen Ausdruck, den er fast patentiert zu haben scheint. Mit einem genuschelten „Entschuldigung" und einem kleinen, sarkastischen Knicks gehe ich weiter, kann mir jedoch nicht verkneifen, ein paar Schritte hinter ihm noch leise hinzuzufügen: „Euer Gnaden". Ich sehe in der Reflexion eines gegenüber liegenden Fensters, dass es sich umdreht, kann aber den Ausdruck auf seinem Gesicht nicht erkennen und behalte mein Schritttempo bei, während ich zu meinem Schließfach gehe.

Als ich den Kunstraum betrete, begrüßt mich ohrenbetäubende Stille. Kaum zwei Meter im Raum, bleibe ich stehen und schaue unsicher in die Klasse. Ein paar Mädchen weinen. Die Jungs schauen betreten zu Boden. Tia winkt mich mit feuchten Augen zu sich und ich bewege mich leise zu meinem Platz. „Es ist raus", flüstert sie, „Nina wurde", ihre Stimme versagt, „Nina wurde erwürgt".

Blinding LightsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt