Der verhängnisvolle Liebesbrief

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Emily stand in ihrem gemütlich eingerichteten Bad vor dem auf antik getrimmten Spiegel, der fast die ganze Wand einnahm. Sie stützte ihre Arme auf das große sandfarbene Waschbecken darunter. Die Augen, die ihr entgegenblickten, hatten nichts mit den strahlenden Edelsteinen gemein, als die sie sonst galten. Ihr Mann verglich ihre Augen gern mit Topasen. Heute sah sie nichts Edles in ihnen.

Sie wirkten wie trübe Teiche, in denen sämtliches Leben erloschen war. Die Hände, mit denen die junge Frau sich schwer auf das Waschbecken stützte, zitterten. Tränen liefen ihr unablässig über die Wangen. Ihre Lippen bebten. Wieder umsonst gehofft. Sie blickte auf den Schwangerschaftstest in ihrer Hand. Immer negativ. Dabei wünschte sie sich doch so verzweifelt ein Kind.

Sie war blind und taub für ihre Umgebung. Ihre Sinne waren erfüllt von der Verzweiflung, die sie überfallen hatte, als sie auf den Streifen blickte. Sie hatte so gehofft. Die Sekunden waren ihr wie Stunden vorgekommen, die Minuten wie Tage. Die Wartezeit war jedes Mal kaum zu ertragen. Von Monat zu Monat litt sie mehr. Sie hörte ihre biologische Uhr ticken. Jeden Monat lauter. Jeder Blick auf den Kalender war eine Strafe für sie. Tag für Tag wurde sie älter. Bald würde es zu spät sein. Sie war inzwischen 27 Jahre alt.

Sie hatte niemals geplant, eine alte Mutter zu sein. Schon seit Jahren beneidete sie die jungen Frauen, die mit ihren Kinderwagen durch den nahen Park schoben. Sie nahm nicht wahr, wie müde manche Frauen waren, quengelnde Kleinkinder an ihrer Hand durch den Supermarkt ziehend. Emily sah nicht den bockig auf dem Boden liegenden Jungen, der seine Mutter zur Weißglut brachte, mit seiner Bettelei um Süßigkeiten. Ihr entging die junge Frau mit Baby im Kinderwagen und zwei quengelnden Kleinkindern, die sich vor Erschöpfung kaum noch auf den Beinen halten konnte. Sie sah nur glückliche Mütter. Jedenfalls wirkten alle Mütter auf sie glücklich. Nur sie - Emily - war unglücklich. Ihr Neid war grenzenlos.

Diese Hoffnung, die sich immer wieder einstellte. Jeden Monat erneut. Und doch - jedes Mal wurde sie wieder in ihr Elend zurückgeworfen. Weitere Blicke in die Kinderwagen anderer Frauen. Neidische Betrachtung derer, die ihre Babybäuche stolz lachend vor sich hertrugen. Wie oft war sie in den letzten Monaten in dem kleinen Laden für Kinderwagen gewesen und hatte sich die verschiedenen Gefährte angesehen, immer mit der Angst, dass jemand erkennen würde, dass sie gar nicht schwanger war. Sie fühlte sich ausgeschlossen aus der Welt, der Welt der Mütter.

Dieser Welt, der sie so gern angehören wollte. Sie hörte ihre Freundinnen, wenn sie sich über ihre Schwangerschaften unterhielten. In den letzten Monaten hatte der Kindervirus, wie ihr Mann es spöttisch nannte, die ganze Gruppe erfasst. George schüttelte nur den Kopf, wenn sie ihm von den mitleidigen Blicken der anderen erzählte. Er konnte es nicht nachvollziehen, dieses Gefühl des Versagens, das sie immer wieder einholte. George war ja auch ein Mann. Die konnten schließlich viel länger Vater werden, als die Frauen. Ihre biologische Uhr tickte deutlich leiser. Sie war doch noch keine 30, also noch im besten gebährfähigen Alter, warum wurde sie nur nicht schwanger. Ein Kind war alles, was Emily ihrer Meinung nach zu ihrem Glück fehlte.

George war ihr stets ein liebevoller Ehemann, er würde bestimmt ein reizender Vater werden. Doch ihr war er keine Hilfe. Er konnte ihr Elend nicht nachvollziehen. Er stand hilflos daneben, wenn sie sich die Augen aus dem Kopf weinte. Sie konnte es schon vor ihrem inneren Auge sehen, wie er das Baby aus dem Kinderwagen nahm und es liebevoll in den Armen wiegte. Endlich eine Familie sein - war alles, was sie wollte. Sie meinte schon jetzt, seine stolzen Blicke auf sich zu spüren, wenn sie ihm erst den ersehnten Stammhalter und Nachfolger für sein Geschäft geboren haben würde. Dann würde ihre Ehe noch besser funktionieren.

Nicht, dass Emily unzufrieden war. George war sehr bemüht um sie und er las ihr jeden Wunsch von den Lippen ab. Und doch - manchmal - wenn er sich unbeobachtet glaubte, dann blickte auch er sehnsuchtsvoll in die Kinderwagen anderer Frauen. Sie hatte es wohl bemerkt.

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