Der Beginn einer Rivalität

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AU: In der Geschichte wachsen Tooru und Tobio als Geschwister auf ;)

Englische Version: https://archiveofourown.org/works/20922608 (von mir)


Tobio-chan war ein Alien.

Es war unmöglich nicht zu dieser Schlussfolgerung zu kommen, nachdem Tooru fast ein ganzes Jahrzehnt unter dem gleichen Dach mit ihm gelebt hatte. Sie sahen nicht einmal aus wie Geschwister, vielleicht wie adoptierte, oder entfernt verwandte, im Krankenhaus vertauschte Cousins aus zwei Parallelwelten. Gut, das war vielleicht ein kleines bisschen weit hergeholt. Trotzdem sahen sie sich in etwa so ähnlich wie zwei Fremde.

Tooru kam eher nach seiner Mutter und Großmutter mit seinen haselnussbraunen Haaren, die sich kräuselten wenn sie nass wurden, dazu passenden braunen Augen und heller Haut. Tobio Haare dagegen waren glatt und pechschwarz, seine Augen so groß und blau wie der Ozean.

Als Baby war Tobio so ziemlich das niedlichste Kind auf der Welt, und kein einziger Tag verging an dem Tooru, obwohl er nur ein paar Jahre älter war, nicht zumindest versuchte ihn hochzunehmen und durchs Haus zu schleppen. Er beobachtete ihn wie er in seinem Gitterbett schlief, schmökerte mit ihm in bunten Pappbilderbüchern, und brachte ihn am Essenstisch mit dämlichen Grimassen zum lachen. Zumindest versuchte er es immer wieder. Tobio war ein merkwürdiges Kind, besessen von Milch und nicht besonders redselig. Dafür hatte er ein anhaltend grimmiges Gesicht. Seinen "Todesblick", wie Tooru ihn nannte.

Als die beiden älter wurden änderte sich nicht viel an all diesen Dingen. Tobio war vieles, aber beim besten Willen nicht schlau. Er dauerte eine halbe Ewigkeit bis er dazu in der Lage war in vollständigen Sätzen zu sprechen, die Toilette zu benutzen anstatt mit dem Flokatiteppich im Wohnzimmer Vorlieb zunehmen, und zu essen, ohne sich Soße übers Gesicht und seine Kleidung zu schmieren. Letzteres klappte auch nur bei jeder zweiten Mahlzeit.

Die Mutter der beiden schimpfte Tooru oft, wenn er etwas zu ruppig mit seinem kleinen Bruder umging. Vielleicht war das auch eine der Ursachen für Tobios etwas verpeiltes Gemüt. Zugegeben, Tooru hatte ihn als Kleinkind bei seinem Weltraumpiraten-Spiel ein paar mal unglücklich fallen gelassen, wobei er öfter als einmal auf dem Kopf gelandet war. Doch er hatte Glück, dass Tobio im Gegensatz zu anderen Kindern in seinem Alter kaum weinte und ihn auch nie für etwas verpetzte. Für einen Zweijährigen war er äußerst genügsam.

Tooru liebte Tobio. Er liebte seinen kleinen, verrückten Alienbruder, liebte wie er manchmal des nachts in seinen Futon krabbelte, nur um etwas Körperwärme von ihm aufzunehmen, und liebte es, wie er ihm ständig hinterherlief und mit riesigen Augen zu ihm aufschaute, die so voller Bewunderung waren. Die Eltern der beiden waren offensichtlich überrascht, dass Tooru, ein schwieriges und oftmals bockiges Kind, gegenüber dem kleinen Bündel Leben nicht einen Hauch von Eifersucht entwickelt hatte.


Alles war friedlich im Hause Oikawa bis Tooru sich ein gewisses Hobby aneignete.

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Als Tooru dem Volleyballclub seiner Grundschule beitrat, ging klein Tobio noch in den Kindergarten. Zuvor hatte er eigentlich etwas anderes machen wollen, vielleicht Malen oder ein Musikinstrument lernen, so wie seine große Schwester. Leider war die zu dem Zeitpunkt schon im Teenageralter und selten überhaupt zu Hause. Man könnte fast sagen, dass Tooru ein wenig einsam war, wenn man Tobio nicht mitzählte. Doch als Tooru Hajime kennenlernte, den Sohn der Familie, die vor kurzem in ihrer Nachbarschaft eingezogen waren, änderte sich sein Leben von einem auf den anderen Tag.

Hajime wurde bald zu "Iwa-chan", seinem besten Freund, und es dauerte nicht lange bis Tooru ihn als eine Art Seelenverwandten ansah. Toou war sich selbst nicht sicher, was er an dem rüpeligen Jungen fand, der den Großteil seiner Freizeit damit verbrachte draußen in den Feldern herumzustromern und eklige Viecher mit viel zu vielen Beinen zu fangen. Doch in dem Moment als sie sich zum ersten mal gegenüber standen, war da diese besondere Verbindung, eine chemische Reaktion die sich keiner der beiden erklären konnte.

Es war eine logische Folge der Ereignisse, dass die beiden in der Schule einem Club beitraten, für dessen Aktivitäten sie sich beide interessierten. Immerhin gab es ihnen einen weiteren Grund noch mehr Zeit miteinander zu verbringen. Anfangs hatte Tooru seine Zweifel gehabt. Er war halbwegs sportlich und bevorzugte den Sportunterricht gegenüber Mathe und den meisten anderen Fächern. Dennoch er war keiner der Jungs die bei Fußballspielen immer als erstes in die Mannschaften gewählt wurden.

Wann immer er etwas vorführte, sei es eine Rolle rückwärts oder ein anderes Kunststück, nickte sein Sportlehrer ihm immer nur, mit demselben zufriedenen, aber nicht sonderlich begeisterten Gesichtsausdruck zu. Nicht bemerkt und bewundert zu werden konnte ziemlich nervig sein, wenn man es von zu Hause gewohnt war. Tooru verfügte über kein großes Talent. Er war einfach normal. Durchschnittlich. Nichts Besonderes. Und Sportclubs waren nichts für "Normale". Schon als Kind war er schlau genug gewesen um das zu wissen.


Das dachte Tooru zumindest, bevor er tatsächlich mit dem Volleyball spielen anfing. Natürlich lief nicht alles sofort perfekt. Der Ball war zu groß und schwer für seine zierlichen Hände, das Netz schien ihn auszulachen, wann immer er einen Aufschlag danebenschlug, und er kam oft mit roten und blauen Flecken auf den Armen nach Hausen. Doch als er nach ein paar Wochen schon kurz davor war aufzugeben, stellten sich plötzlich Fortschritte ein.

Ihm fiel auf, wie seine Aufschläge nicht mehr im Netz landeten, und wie großartig es sich anfühlte einen Ball über eine Reihe an Blockern zu schmettern. Angreifen machte Spaß, doch nichts füllte sein Herz mit so viel Stolz, wie ein erfolgreiches Zuspiel, welches seinem Team einen Punkt einbrachte. Natürlich trug Iwa-chans Lob noch zusätzlich zu seiner Genugtuung bei. Sie waren ein perfektes Team, das behauptete auch der Trainer.

Tooru hatte sich verliebt, in mehrerer Hinsicht, und es fühlte sich an als könnten es er und Iwa-chan mit der ganzen Welt aufnehmen.

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Seine Eltern waren von seinem neuen Hobby vorerst wenig begeistert. Sein Vater rollte mit den Augen darüber, wie Tooru seine Zeit verschwendete anstatt sich mit langweiligen Matheformeln zu befassen, und seine Mutter sah ihn stets mit diesem besorgten Blick an, den Mütter so an sich hatten. Keiner seiner Familienmitglieder schenkte Tooru die gewünschte Beachtung, wann immer er spätabends am Essenstisch vom Volleyballtraining erzähle und mit auschweifenden Armbewegungen einen Angriff von Iwa-chan nachstellte.

Keiner, außer sein süßer kleiner Alienbruder Tobio.

Während Tooru weiterredete und sich laut über das offensichtliche Desinteresse seiner Eltern beklagte, schaute sein kleiner Bruder zu ihm hoch, als wäre er der Mittelpunkt des Universums. Seine blauen Augen funkelten im Schein der Deckenlampe, und während er ihm zuhörte, tropte ihm Currysoße vom Kinn auf seine als Lätzchen missbrauchte Serviette.

"Tobio, dein Essen wird kalt", ermahnte ihn sein Vater, doch Tobio war viel zu abgelenkt, konnte er sich doch schon immer nur auf eine Sache gleichzeitig konzentrieren. Tobio war in den letzten Jahren ein ganzes Stück gewachsen, mochte nicht mehr pausenlos geknuddelt und herumgetragen werden, und war für sein Alter viel zu unabhängig, zumindest wenn man Tooru fragte. Vielleicht hatte sich ja doch nicht so viel geändert. Immerhin war Tobio immer noch sein kleines Brüderchen, und er damit der große Bruder.

Eine merkwürdige, aber angenehme Wärme breitete sich in Toorus Innerem aus, und hielt eine ganze Weile an, auch nachdem er seine Aufmerksamkeit wieder dem Essen auf seinem Teller zugewandt hate. Seine Eltern würde seine Leidenschaft nie verstehen.

Zum Glück musste das Gleiche nicht für Tobio gelten.

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"Tooru, bringst du mir Volleyball bei?" Tobios kleine Hand zerrte an seinem Ärmel, als sich Tooru auf dem Weg in die Küche begab um, brav wie er war, seinen Teller abzuwaschen. Als er sich umdrehte, schaute er geradewegs in das ernste, aber unfassbar knuffige Gesicht seines kleinen Bruders. Seine Stirn war gerunzelt, die Augenbrauen zusammengezogen und die Lippen vorgestülpt. Zum ersten mal an diesem Abend hatte Tobio den Mund zu einem anderen Zweck aufgemacht, als sich Essen hineinzuschaufeln.

"Dafür bist du noch zu klein, Tobio-chan", ärgerte Tooru ihn und wuschelte ihm durch die Haare, was ihm ein beleidigtes Schnaufen einbrachte, "Aber wenn du älter bist, kann ich das gerne versuchen. Wer weiß, vielleicht liegt dir Volleyball sogar. Du bist ja in den meisten anderen Sachen eher schlecht." Tobio bließ nach dem Kommentar seine Wangen auf, und Tooru musste kichern, weil sie ihn jetzt alsrecht wie einen Kugelfisch aussehen ließen.

Vielleicht war es ein bisschen gemein, ihn immer so aufzuziehen, doch es entsprach der Wahrheit. Unabhängigkeit hin oder her, Tobio war fünf Jahre alt und konnte weder seinen eigenen Namen schreiben, noch bis zwanzig zählen. Er würde es sicher einmal schwer in der Schule haben.

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Als Tooru eines Nachmittags aus der Grundschule wiederkam, war Tobio nirgendwo zu finden. Nun, das war tatsächlich merkwürdig. Tooru suchte sowohl sein, als auch Tobios Zimmer ab, gefolgt von der Küche, dem Wohnzimmer und selbst dem Badezimmer, da er befürchtete, der kleine Trottel wäre wieder einmal auf dem Klo eingeschlafen.

Er wurde schließlich im Hinterhof fündig. Tobio stand in einer Ecke und hielt einen alten Ball über seinem Kopf. Der Anblick vollkommener Konzentration auf seinem Gesicht war schon amüsant genug, doch als er den Ball nach oben pritschte, passierte genau das, was wohl jedem Kind in seinem Alter passieren würde. Für Tobio war das jedoch noch lange kein Grund aufzugeben. Tooru presste sich beide Hände auf den Mund und beobachtete Tobio heimlich dabei, wie er den Ball für mehrere Minuten lang immer wieder in die Höhe warf. Beim Versuch ihn wieder nach oben zu spielen, landete er ihm jedoch auf der Nase, und das jedes verdammte Mal. Irgendwann konnte Tooru nicht mehr an sich halten.

"Hey! Mach dich nicht über mich lustig!" Tobio drehte sich auf dem Absatz um, den Ball an seine Brust gedrückt als wäre er sein liebstes Kuscheltier. Tooru musste daraufhin nur noch mehr lachen.

"Versuchst du ernsthaft Volleyball zu spielen? Ganz alleine? Du kennst doch noch nicht mal die Regeln." Tooru konnte nicht anders, als sein Brüderchen für sein Vorhaben einmal gründlich auszulachen. Tobio war so eine naive Dumpfbacke. Schon allein die Idee sich selbst eine Teamsportart wie Volleyball beibringen zu wollen, ohne, dass ihm jemand zumindest die Grundlagen erklärte, war selten dämlich. Aber so war er eben.

"Ich hab ein Spiel im Fernsehen gesehen", antwortete Tobio und schmollte, als wäre es die offensichtlichste Antwort, die man in der Situation geben konnte. Tooru runzelte die Stirn. Wie hatte es Tobio geschafft, seine Eltern dazu zu überreden ihn Volleyball im Fernsehen gucken zu lassen? Er durfte das wenn überhaupt nur selten. Vielleicht hatte er sie solange mit seinem berühmten Todesblick angestarrt, bis sie schließlich nachgeben mussten. Vielleicht war das aber auch der Bonus, den man als jüngeres Geschwisterkind hatte.

"Du hast keine Ahnung wovon du redest, Tobio-chan. Volleyball spielen ist schwer. Sehr schwer! Man muss ganz fürchterlich viel üben um so gut zu werden wie die Spieler im Fernsehen. Das ist nur was für große Kinder, verstanden?" Tooru grinste innerlich, als Tobios Augen daraufhin groß wurden wie Teller, und- Verbeugte er sich etwa vor ihm?

"Ich bin auch ein großes Kind! Bitte brings mir bei! Ich will auch ein Zuspieler werden wie du. Bitte bitte bitte!" Tooru wurde still und neigte den Kopf zur Seite. Er hatte nicht erwartet, dass Tobio, der zurückhaltende, grummelige Tobio ihn einmal darum anbetteln würde ihm eine Sportart beizubringen. Und warum ausgerechnet ein Zuspieler? Nur weil Tooru einer war? Selbst wenn, Tooru hatte anfangs auch eher einer der Angreifer sein wollen, und seine Meinung erst geändert, nachdem der Trainer ihm eine andere Position nahegelegt hatte.

Vielleicht war Tobio ein bisschen zu leidenschaftlich was diese ganze Volleyball Sache anging. Doch trotz allem konnte Tooru nicht verleugnen, dass ihn all die Aufmerksamkeit mit Stolz erfüllte. Er war nicht so, als ob es Tobio schaden würde ein paar Sportarten auszuprobieren. Was sollte schon Schlimmes passieren? Es war doch nur ein Spiel.

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"Ich hoffe dir ist bewusst, wie viel Glück du hast mich als deinen Lehrer zu haben," feixte Tooru, sich darüber freuend, dass Tobio seit langem einmal wieder völlig abhängig von ihm war. Tobio nickte heftig und streckte seine kurzen Arme aus um Tooru den Ball zu überreichen. Er war völlig verdreckt, und Tooru zögerte ein paar Sekunden bevor er das verbeulte Etwas mit angeekeltem Gesichtsausdruck annahm. Er zog es vor Volleyball in einer sauberen Turnhalle zu spielen, doch wenn man sich Tobios ebenfalls schmutziges Gesicht und seine Hände anschaute war klar, dass sich der Kleine nicht sonderlich darum scherte.

Tooru beschloss mit etwas Leichtem anzufangen. Sich den Ball ein paar mal zuzuwerfen und mit beiden Händen aufzufangen war ein gutes Training für Grünschnäbel wie Tobio. So hatte es Tooru in der Grundschule gelernt. Ballkontrolle und die richtige Haltung waren die wichtigsten Bestandsteile des Sports, ohne die man praktisch keine Chance hatte.

Tobio tat alles, was Tooru ihm sagte, motzte und beschwerte sich nie, doch mit der Zeit wurde sein eh schon grimmiges Gesicht immer grimmiger. Zudem fing er an zu zappeln. Also entweder musste er dringend mal, oder ihr kleines Spiel fing an ihn zu langweilen.

"Du machst das ganz gut, Tobio-chan. Zumindest für 'nen Anfänger", lobte Tooru ihn nach einer Weile und wurde selbst ganz verlegen, als Tobio daraufhin tatsächlich rot wurde. Als wenn der kleine Kerl nicht schon süß genug war. "Lass uns was anderes versuchen. Du willst doch lernen, wie die Erwachsenen im Fernsehen zu spielen, hab ich Recht?" Tobio nickte daraufhin so heftig, dass Tooru befürchtete er würde sich das Genick verrenken.

Also zeigte er es ihm. Tooru führte ihm vor, wie man seine Finger beim Pritschen positionierte, wie man einen Ball von unten annahm, und natürlich auch wie Aufschläge funktionierten. Der letzte Punkt war Toorus Favorit, da er so ein wenig angeben konnte. Zudem sah es einfach nur lustig aus, wie Tobio bei seinen eigenen Versuchen den Ball ständig in eine Schlammpfütze schmetterte, wobei ihm noch mehr Dreckwasser ins Gesicht spritzte.

"Wow, du bist ja grottig", sagte Tooru ihm mehr als einmal, und erinnerte sich daran, wie der Trainer seine Aufschläge stets für saubere Ausführung und Durchschlagkraft gelobt hatte. Jetzt sah er, wie ein hässlicher und schwacher Aufschlag aussah, doch das war keine große Überraschung. Als Tooru angefangen hatte, waren seine Aufschläge auch nicht besser gewesen, minus die Pfütze versteht sich. Es war in Ordnung für Tobio schlecht zu sein. Er sollte sogar schlecht sein. Alles andere wäre einfach nur gruselig.

Sie spielten noch eine ganze Weile so, und es dauerte nicht lange, bis sich Toorus Arme und Beine wie Blei anfühlten. Die Strapazen des langen Schultags und dem Fußweg nach Hause machten sich bemerkbar, und auch wenn Tooru stundenlang mit Iwa-chan Volleyball spielen konnte, war etwas an seinem Spiel mit Tobio anders. Vielleicht lag es tatsächlich daran, dass er sich mehr anstrengte um seinem Brüderchen zu imponieren.

Tooru hätte es nie für möglich gehalten, für den unerfahrenen, naiven kleinen Tollpatsch je so etwas wie Rivalität zu empfinden, doch genau das schien gerade zu passieren.

Wenn Tobio über eine wesentliche Stärke verfügte, dann war das Ausdauer. Er bettelte immer wieder lautstark nach dem Ball, und war dafür auch bereit durch den ganzen Hof zu hetzen. Auch wenn sie keinen richtigen Volleyball verwendeten, entgang es Tooru nicht, wie Tobio bei einigen Annahmen wie aus Reflex zusammenzuckte. Wann immer das geschah, verzog er das Gesicht zu einer Grimasse die auf Schmerzen hindeutete, doch das war noch lange kein Grund für ihn aufzuhören. Im Gegenteil. Er wollte immer mehr und mehr und mehr...

"Okay, du kleiner Tyrann, das ist aber wirklich der Letzte für heute", beschloss Tooru als er den Ball ein weiteres Mal in die Höhe warf, mittlerweile schon reichlich genervt von Tobios überzogenen Forderungen. Draußen dämmerte es langsam, und der Zwerg war immer noch nicht müde. Vielleicht war er ja doch ein Alien. Tobio riss seine Arme in die Höhe, wobei seine Augen den Ball verfolgten wie eine Katze einem Laserpointer. Tooru wartete auf den Moment, in dem er den Ball mit den Fingerspitzen berühren würde, nur um anschließend das Gleichgewicht zu verlieren und auf seinem Hinterteil zu landen.


Leider passierte diesmal nichts davon, und es erschallte auch nicht das bekannte Geräusch von kleinen Patschehänden, die auf ungeschickte Weise auf das Leder trafen. Bevor Tooru sich versah, flog der Ball ohne jedes Geräusch nach oben und schwebte in einem nahezu perfekten Bogen durch die Luft. Tooru fiel bei dem Anblick die Kinnlade herunter.

Was zur Hölle? W-Wie??

Tooru hatte nicht genug Zeit um auch nur daran zu denken seine Hände hochzunehmen und den Ball zurückzuspielen. Er war wie erstarrt. Sein kurzes Leben von siebeneinhalb Jahren zog an ihm vorbei als besagter Ball seinem Gesicht wie in Zeitlupe immer näher und näher kam. Das war dann wohl das Ende. Jetzt würde er doch nie dazu kommen Iwa-chan zu heiraten.

Ein dumpfes Knallen echote durch den Hof, und zum ersten Mal empfand Tooru so etwas wie Mitgefühl mit Tobio, der sich das Gleiche mehrere Male hintereinander angetan hatte. Das runde Spielgerät prallte von seinem Gesicht ab und rollte unbeachtet aus seinem Blickfeld ins feuchte Gras. In der Ferne krähte ein Vogel, doch ansonsten war es still.

"Auaaa!" Der Schreck saß eindeutig tiefer als der Schmerz. Tooru hielt sich instinktiv eine Hand unter die malträtierte Nase, aus der etwas Warmes zu tropfen begann. Nasenbluten war ihm nichts Neues, was das plötzlichen Auftreten in dem Moment aber nicht weniger unangenehm machte. Als er hochblickte, schaute ihn Tobio wieder einmal mit diesem dusseligen Welpenblick an, den er immer aufsetzte wenn er ihn etwas verunsicherte. Und doch war da ein merkwürdiger, intensiver Glanz in seinen Augen. Tooru erwartete eine Entschuldigung, doch was stattdessen aus Tobios Mund drang, machte ihn schlichtweg sprachlos.


"Hab ich das gut gemacht?"

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Eine halbe Stunde später war sich Tooru immer noch nicht sicher, warum Tobios unschuldige Frage das Bedürfnis in ihm geweckt hatte seinem Brüderchen den Kopf abzureißen. Zum Glück hatte seine Mutter eingegriffen, bevor noch mehr Blut vergossen werden konnte. In erster Linie hatte sie die beiden dafür gerügt, dass sie wie kleine Ferkel aussahen. Gerade Tooru musste sich eine Schimpftirade nach der anderen anhören, da er im Gegensatz zu Tobio noch seine Schuluniform anhatte, die jetzt zwangsläufig in die Wäsche musste.

Bevor sich einer der beiden Dreckspatzen beschweren konnte, scheuchte ihre Mutter sie durch die Hintertür ins Haus und geradewegs in Richtung Badezimmer. An diesem Abend hatten sie so oder so ein Bad nehmen müssen, daher machte der Zeitpunkt keinen großen Unterschied. Beim Abendessen sauber zu bleiben würde sich jedoch zumindest für Tobio als schwierig erweisen.


Schon seit einigen Minuten kauerte Tooru in einer Ecke der Badewanne, die Arme verschränkt und die Unterlippe nach vorne geschoben. Das Wasser war ihm wie immer zu heiß, doch das war es nicht, was ihn am meisten aufregte. Ein paar Meter weiter saß der kleine Tobio, von Kopf bis Fuß eingeschäumt auf einem Hocker und ließ sich von seiner Mutter den gröbsten Dreck aus Haaren und Gesicht schrubben. Die Situation hatte etwas angenehm Vertrautes, und doch glich Toorus Innerstes einem Vulkan kurz vor dem Ausbruch.

Das Zuspiel von vorhin konnte nur Zufall gewesen sein. Tobio war ein Kindergartenkind. Seine Schuleinführung stand erst im folgenden Jahr an. Auch wenn er noch so einen auf unabhängig machte, war er praktisch noch ein Baby. Ein Baby, dass täglich Mittagsschlaf hielt, mit Kuscheldecke und Plüschtieren ins Bett ging und seine Milch beim Frühstück immer noch aus einer Schnabeltasse trank, wann immer seine Eltern nicht hinschauten. Okay, die letzte Angewohnheit war seltsam, selbst für ein Kind in Tobios Alter.


Trotzdem konnte, nein durfte Tobio im Zuspielen nicht besser sein als er. Nicht, nachdem er ein einziges Spiel im Fernsehen gesehen und ein paar Stunden im Hof geübt hatte. Nicht während Tooru sich in der Schule abrackerte um ein paar Bälle übers Netz zu bekommen. Es war frustrierend, unfair und schlicht und einfach falsch.

Was wäre wenn Tobio, jetzt wo er Blut geleckt hatte, mit dem Volleyball spielen weitermachen würde? Würde er später auf der Mittelschule Toorus Team beitreten und ihm seinen Stammplatz wegnehmen, nur weil er talentierter war? Verdammt. Das wäre eine Katastrophe. Tooru schauderte es bei der Vorstellung. Oder noch schlimmer, was wenn er auf eine der ehemals stärksten Schulen der Präfektur wechseln, und dort einen rothaarigen Zwerg treffen würde, mit dessen Hilfe er dann Toorus Team aus dem Finale des Turniers katapultierte, sodass sie sich die Teilnahme an den nationalen Meisterschaften endgültig abschminken konnten?

Er schluckte. Okay, das war vielleicht ein bisschen sehr spezifisch. Aber was wenn?

"Habt ihr euch gestritten? Oder gar geprügelt?", fragte ihre Mutter in strengem Ton, da zwischen den beiden Jungs nach der Aktion im Hof noch immer Funkstille herschte, auch nachdem sie den kleinen Tobio zu seinem großen Bruder in die Badewanne gesteckt hatte.

"Nein," antwortete Tooru wahrheitsgemäß, wandte aber demonstrativ den Blick ab, als Tobio ihn zuerst verwirrt anblinzelte und anschließend mit dem Zeigefinger mehrmals in die Wange piekste. Tooru widerstand gerade so dem Verlangen das kleine Nervkind unter Wasser zu drücken. Ihre Mutter hob bei dem Anblick misstrauisch die Augenbrauen, doch außer einem müden Schulterzucken war aus Tooru nichts mehr herauszubekommen.

"Ich weiß nicht, was da draußen vorgefallen ist, aber ihr solltet euch aussprechen. Mit Schmollen macht ihr es nicht besser", sagte ihre Mutter, doch der einzige der zumindest mit einem Ohr zuhörte war Tooru. Tobio war währenddessen dazu übergegangen sein Spielzeugboot über seinem Kopf zu balancieren und wie einen Ball immer wieder in die Höhe zu werfen. Seine Augen waren geweitet, die Zunge in einer Geste der Konzentration zwischen die Lippen geklemmt. Tooru schaute dem Spektakel eine Weile zu, und trotz des immer noch viel zu warmen Wassers lief ihm ein eiskalter Schauer über den Rücken.

"Oh nein," flüsterte er zu sich selbst, als ihm die Bedeutung des Ganzen bewusst wurde.

"Ich glaub, ich hab ein Monster kreiert."

Baby Setters [Deutsche Version]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt