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Neonlichter. Grelle Farben, reflektiert auf nassem Asphalt. Die Stadt, umrandet vom schwarzen Nachthimmel, zeigte ihre grimmen Umrisse. Gebäude, höher als das Auge sehen konnte, ragten wie lange, dunkle Finger in den Himmel. Sie griffen förmlich danach.

Auch nachts waren die Straßen nie menschenleer. In solchen Städten war das Nachtleben die Haupteinnahmequelle. Trotz des seit Stunden anhaltenden Regens drängten sich die Menschen durch die engen Gassen, die Gesichter unter Kapuzen verborgen. In der Stadt war es laut, grell und es schien niemals Ruhe zu herrschen. Wira folgte den Massen zu einem zentralen Platz. Sie war diese Art von Städten gewohnt: Hier sammelten sich die Kriminellen, die Diebe und Schmuggler, um ihren Elektroschrott auf den Schwarzmärkten zu verkaufen. Über ihren Köpfen schwebten Autos mit elektrischem Auftrieb, gefährlich nach an den unzähligen Neonschildern. In jeder Ecke strahlte Licht aus den verdreckten Fenstern, es kam dichter Rauch aus Milliarden Schornsteinen. Es war tatsächlich nicht das beste Viertel, dachte Wira, während sie um eine weitere Ecke bog.

Vor ihr erstreckte sich ein weiter Platz, gefüllt mit Menschen und dicht gedrängten Marktständen. All die Bauten am Rand waren schief und krumm, wie eilig zusammengebaut. Manche in den höheren Stockwerken ragten sogar gen Marktplatz. Aus unzähligen, holzverkleideten Fenstern drang buntes Licht, an manchen Ecken sprangen Funken aus defekten Maschinen. Der Regen prasselte unermüdlich, benetzte die asphaltierten Straßen, bildete Pfützen, trommelte auf die metallenen Dächer der mehrstöckigen Häuser. Es waren oft kleine, schiefe Wohnungen, bis zu Unendlichkeit aufeinander gestapelt, meistens weit bis in den zehnten Stock. Wira spürte, wie Regenwasser durch ihre Stiefel eindrang und fluchte. Flink duckte sie sich in eine der Seitengassen und suchte Schutz unter einem tiefhängendem Metallvorstand. Der Regen trommelte mit leisem Rhythmus, während sie die dunklen Gestalten auf dem Markt beobachtete. Der Schwarzmarkt war ein schmutziges Geschäft, das von Geheimhaltung lebte. Die meisten Bewohner der statt wussten sehr wahrscheinlich nicht einmal von ihm, zumal er in einem schlecht besuchten Viertel stattfand. Außerdem waren sich auch die Händler jeder Zeit der Kurzlebigkeit ihres Geschäftes bewusst: Wira sah die Schrauben und Scharniere an ihren Tischen, mit Hilfe derer sie binnen weniger Sekunden ihre Tisch zusammenfalten und zur Flucht aufbrechen konnten. Doch ihre Vorsicht war unbegründet: Schon seit Jahren hatte Wira keinen Beamten des Sicherheitsdienstes mehr in diesem Viertel gesehen. Die Autorities hatten aufgrund der überwältigenden Kriminalität schon lange die täglichen Patrouillen aufgegeben: Bei Eingreifen der oft schwer bewaffneten Einsatzkräften oder gar Festnahmen gab es Randale, Proteste und gewaltsame Auseinandersetzungen. Häufig wurden die Patrouillen so stark bei ihrer Arbeit gehindert, dass Festnahmen nicht möglich oder schlichtweg kravallerregend waren. Die Bevölkerung dieses dunklen Teils der Stadt verstand nichts von Gerechtigkeit und Recht, für sie zählte nur eins: Das nackte Überleben auf diesen kalten, nassen Straßen. Viele dieser Menschen hatten ihr gesamtes Leben hier verbracht und kannten keine andere Realität. 

Wira war anders: Sie stammte aus der Welt der Reichen und Schönen. Tochter eines der höchsten Tiere bei den Autorities, der mächtigsten Gilde dieser postmodernen Welt. Sie kannte den Umgang in ihren hohen, weiß-grellen Gebäuden, die buchstäblich über den Wolken schwebten. Nur sie, konnte man in diesen dunklen Gassen denken, erreichte jemals das goldenen Sonnenlicht. Wira kannte Reichtum. Wie auch Armut. Sie kannte Glück und Zufriedenheit, aber auch die bittere Realität in den armen Vierteln. Durchnässt und frierend, besiegt wie ein gefallener Engel, schritt sie durch die nächtliche Stadt.


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