Lächelnd blickte die Großmutter in das entspannte, der glitzernden Frühlingssonne entgegengerichtete Gesicht ihrer Enkelin. Erwartungsvoll wendete sich ihr diese pausbackige Gesicht zu und fragte verschmitzt: „Oma, erzählt du mir eine Geschichte?" „Natürlich, meine Liebe", erwiderte sie, lehnte sich auf der Parkbank entspannt zurück und reckte ihr eigenes Gesicht ebenfalls der Sonne entgegen.
<< Es war einmal eine kleine Rose inmitten eines großen, prachtvollen Rosengartens. Sie stand aufrecht und stolz, ermutigt von den vielen Komplimenten ihrer Hausherrin. Täglich wurde sie betrachtet, regelmäßig liebevoll gegossen und von den vereinzelten braunen Blättern befreit. Selbstbewusst richtete die kleine Rose ihre Blüten der Sonne entgegen, welche deren Rot die satte Farbe von Blutstropfen verliehen. Eines Nachts, als eigentlich alle Rosen ruhen sollten, hörte sie ein entferntes Flüstern. Eine der anderen Rosen schien sie nicht zu mögen, denn sie lästerte über sie. Da sie nur sehr wenig verstand, gab sie auf zu lauschen und schlief traurig wieder ein. Ein stechender Schmerz weckte sie am nächsten Morgen, als genau diese Rose einen ihrer schönsten Blütenköpfe abriss und dieser langsam zu Boden segelte. Eine weitere Rose schaute sie bitterböse an, während eine dritte hämisch lachte und ihr zu zischte: „Mal sehen, wer jetzt der Liebling der Hausherrin ist."
Erfüllt von Trauer und Schmerz wandte sich die kleine Rose von den anderen ab. Gerade als sie sich der strahlenden Sonne zuwenden wollte, um wieder etwas Kraft zu sammeln, fiel der Schatten der Hausherrin auf sie. „Du undankbares Ding", herrschte diese sie an „ ich pflege dich so gewissenhaft und wie dankst du es mir? Indem du wild herumtollst und dir so einen Blütenkopf abbrichst? Die Mühe hätte ich mir wohl sparen können!". Gerne hätte sich die kleine Rose verteidigt, aber die Frau würde sie nicht verstehen. Schadenfroh glucksten die anderen Rosen um sie herum.
Die nächsten Tage waren die Hölle für die kleine Rose. Täglich ergossen sich hämische Bemerkungen der anderen über sie. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus und warf traurig eines ihrer Blütenblätter ab. Dann noch eines und noch eines. Sie weinte sich langsam in den Schlaf. Am nächsten Morgen sah es aus als stünde ein vertrockneter Rosenstock inmitten einer Pfütze aus Blut. Die Sonne brachte ihre auf dem Boden liegenden Blätter zum Strahlen und noch immer schillerten sie in den unterschiedlichsten, sattesten Rottönen. Und siehe da, auch darauf waren die anderen Rosen neidisch. Die hämischen Kommentare und hasserfüllten Blicke nahmen kein Ende.
Gedemütigt und zutiefst verletzt weinte die kleine, nackte Rose bitterlich. Da kam eine alte, fast vertrocknete Rose zu ihr her und meinte: „Lass die anderen doch reden. Du warst und bist noch immer die schönste Rose hier im Garten." Aber das liegt nicht an deinen funkelnd roten Blütenblättern, meine Liebe." „Woran dann?", fragte die kleine Rose neugierig und hoffnungsvoll. „Wahre Schönheit kommt von innen, weißt du?", fuhr die alte Rose fort. „Du bist die Schönste, weil dein Herz nicht von den Schatten des Neides, der Eifersucht und des Spottes verdunkelt ist. Du kannst all deine Blätter wegwerfen und wirst dennoch die Schönste hier bleiben und die anderen werden weiter lachen und dir böse Blicke zuwerfen." „Aber dann bringt es ja gar nichts, wenn ich versuche hässlich zu sein, damit sie mich in Ruhe lassen.", flüstert die kleine Rose etwas resigniert. „Glaub mir", erwidert die weise, alte Rose „eines Tages wirst du ihre Blicke nicht mehr spüren und ihre neiderfüllten Worte nicht mehr hören, aber so oder so kommt es nur darauf an, was du über dich selbst denkst. Also schmeiß deine Blätter wieder und wieder ab, wenn du dich damit besser fühlst oder lass sie wachsen und in der Sonne in allen erdenklichen Rottönen erstrahlen."
Jahre später war die kleine Rose eine stolze und schöne Rose mit dem dichtesten Blütenkleid der Welt geworden und statt sie zu verspotten, kam manch eine der anderen Rosen zu ihr und fragte wie sie das machte. Sie teilte die Weisheit der inzwischen verstorbenen Rose mit jeder, die sie hören wollte und fand nach und nach ein paar gute Freundinnen. >>
„Mama und Papa habe dir das von der Schule erzählt, oder Oma?", fragte sie das kleine Mädchen mit traurigem Blick. „Ja, das haben sie", entgegnet die Großmutter, nimmt ihre Enkelin auf den Schoß und betrachtet gemeinsam mit ihr die rote Rose gegenüber der Parkbank auf der die beiden sitzen.