Alte Wunden

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Kapitel 1 - Alte Wunden


Mit den sonnenbeleuchteten Bergen im Rücken und der morgendlichen Sommerfrische, die durch das geöffnete Fahrerfenster hereinkam und mein Haar zum Tanzen brachte, näherte ich mich dem Campus, der kaum größer zu sein schien als meine alte High School. Kurz hinter der Abfahrt vom Highway erstreckte sich bereits der Parkplatz. Anscheinend war es eher untypisch für Studenten so früh dran zu sein, denn die vorderen Reihen waren noch weitestgehend unbesetzt, sodass ich meinen alten Ford direkt an der Bordsteinkante parkte. Gähnend betätigte ich die elektrischen Fensterheber und fischte ein Blatt Papier aus der Handtasche, die auf dem Beifahrersitz stand. Vorsorglich hatte ich mir einen Lageplan ausgedruckt und versuchte mich zu orientieren, bevor ich aus dem Auto stieg. Lieber saß ich ein paar Minuten länger im Wagen, als dass ich planlos umher stolperte, mit einer Karte vor der Nase und jeder sehen konnte, dass ich zum allerersten Mal hier war.

      Der Unterricht würde erst morgen beginnen, heute wurde lediglich verlangt, dass sich alle Erstsemesterstudenten im Auditorium eine Einführung vom Dekan anhörten und einer Vorstellung der einzelnen Professoren beiwohnten.

      Der Weg zum Verwaltungsgebäude war tatsächlich recht leicht zu finden, was unteranderem der ausführlichen Beschilderung geschuldet war. Ich reihte mich in die kurze Schlange von Studenten an, nannte meinen Namen, als ich an der Reihe war und erhielt ein Willkommenspaket. Es bestand aus einer Plastiktüte, die mit Notizblöcken, Bleistiften und jeder Menge Informationsbroschüren gefüllt war. Die freundliche Dame am Empfang erklärte mir, wie ich zum Hörsaalgebäude für die Geisteswissenschaften kam.

      „Biegen Sie das nächste Mal einfach direkt auf Grandview Drive ab, wenn Sie von Norden kommen und halten sich dann vor den Tennisplätzen links, bis Sie zum Parkplatz kommen. Dann müssen Sie nicht so weit laufen."
      Tatsächlich hatte ich am anderen Ende des Campus geparkt, wenngleich dieser auch überschaubar war. Gemächlich schlenderte ich den breiten Weg zwischen den großen, kantigen Gebäuden hindurch. Nach wie vor war ich sehr gut in der Zeit und nutzte die verbliebenen Minuten, um alles auf mich wirken zu lassen. Wenn ich mir früher vorgestellt hatte aufs College zu gehen, dann hatte ich immer von einer ganzen Stadt an Universitätsgebäuden geträumt, von tausenden von Studenten, die wie emsige Ameisen die Wege füllten und von Professoren, die schon die halbe Welt bereist hatten. Ich hatte mir ausgemalt, wie es sein musste, in einem riesigen Studentenheim zu wohnen, jedes Semester neue Nachbarn zu bekommen und mitten im Zentrum des Campuslebens zu stehen. Doch das echte Leben sah anscheinend etwas anderes für mich vor. Die Realität wollte, dass ich jeden Tag über zwei Stunden im Auto verbrachte, um zwischen dem Haus meines Vaters und der Uni zu pendeln. Die Realität sah vor, dass ich eine Universität besuchte, die kaum größer war als eine Schule, deren Professoren genauso gut einfache Lehrer hätten sein können, mit Studenten die wahrscheinlich alle aus derselben Kleinstadt kamen.

      Am kleinen Auditorium angekommen, stellte ich fest, dass die Ränge wider Erwarten bereits gut gefüllt waren. Sofort schweifte mein Blick zu der hintersten Reihe, in der noch einige Plätze frei waren. Mein rechter Fuß hatte sich bereits in Bewegung gesetzt, als ich doch noch einmal innehielt. Mir kam in den Kopf, worüber ich den ganzen Sommer - und die Autofahrt hierher – nachgegrübelt hatte. Ich hatte mir fest vorgenommen, das Beste aus dem Pfad der vor mir lag zu machen. Offenheit und Charisma zählten noch nie zu meinen Stärken, doch ich wollte trainieren, wollte aufgeschlossener und mutiger auf andere Menschen zugehen, anstatt mich immer nur abzuschotten.

      Mit einem tiefen Atemzug in der Lunge steuerte ich an der letzten Reihe vorbei und ging stattdessen in den mittleren Block. Von hinten sah ich einen dunkelbraunen Haarschopf, der zu einem Jungen gehörte, der ganz allein dasaß. Mein Herz flatterte bei dem Gedanken, dass es so einfach sein könnte, einen Gleichgesinnten zu finden. Meine übereifrige Fantasie malte hektische Bilder von einem schüchternen aber gutaussehenden Jungen, der sich an seinem ersten Tag am College verunsichert fühlte und sich beschämt alleine in die Reihe gesetzt hatte, weil er sich nicht traute, sich zu Fremden zu setzen. In meinem kranken Kopf eilte ich zu seiner Rettung und wir würden innerhalb weniger Sekunden erkennen, dass wir zwei im Einklang stehende Seelen in einem Meer brüllwütiger Affen waren.

MoonkissedWhere stories live. Discover now