Wie alles begann...

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 „Lisa komm schon, wir müssen los!" Hörte ich meine Mutter von unten rufen. „Ich komme!" rief ich und schnappte nach meiner, wie ich später feststellte, viel zu dünnen Strickjacke. Schon der erste Fehler an diesem Tag. Oder vielleicht auch der zweite wenn man bedenkt, dass ich mich für einen Minijob angemeldet hatte und ich deshalb nun an einem Samstag um sieben Uhr morgens fix und fertig vor dem Spiegel stand um gleich den ganzen Tag Zeitungen zu verteilen. Was soll ich sagen? Ich brauchte das Geld, denn wie jede sechzehn – jährige war auch ich immer knapp bei Kasse. Ich stürmte also die Treppe hinunter um noch rechtzeitig zu sein. Meine Mutter fuhr mich, mit samt meinem kleinen Handwagen zur Zeitung in der nächstgrößeren Stadt um die Exemplare abzuholen die ich heute zustellen sollte. Dort angekommen staunte ich nicht schlecht als mir die schlanke Frau hinter dem Tresen fast 150 Zeitungen in die Hand drückte, einschließlich einer Liste mit allen Adressen die eine Zeitung bekommen sollten. Glücklicherweise waren sie bereits zu einer Route zusammengestellt. Schnaufend hob ich den schweren Stapel auf meinen kleinen Handwagen und zog ihn zurück zum Auto meiner Mutter.

Keine dreißig Minuten später stand ich schon im ersten Hauseingang und wurde die ersten beiden Zeitungen los. Und so lief ich weiter, den ganzen Vormittag. Es war Mitte September und damit schon recht kühl.An diesem Tag nieselte es auch noch, wenn auch nur leicht. Langsam aber sicher durchdrang das Wasser meine dünne schwarze Strickjacke und mir wurde kalt. Ich schüttelte die Kälte ab so gut ich konnte und zog meine Runde durch. Kurz vor fünfzehn Uhr war ich also am letzten Punkt meiner Liste angekommen. Als ich die Adresse las wurde mir etwas schlecht. Ich wusste genau wer in dem Haus wohnte. Dieser komische Kauz von dem sich eigentlich konsequent jeder fernhielt. Niemand wusste so richtig etwas mit ihm anzufangen. Er sprach mit kaum einem und wenn dann hatte er es schon oft geschafft die Leute mit seinem komischen Humor zu vergraulen. Ich schluckte und war froh, dass ich ja nur die Zeitung in den Briefkasten werfen musste. So setzte ich mich also in Bewegung. Der Himmel war mittlerweile durch und durch grau bedeckt, weshalb es auch sehr dunkel war. „Passend zur Gruselstimmung" dachte ich als ich in die kleine Seitenstraße einbog in der das Haus stand. Es war gar nicht weit von meinem Haus entfernt, vielleicht 5 Minuten zu Fuß. Endlich stand ich vor der Einfahrt und musste mit Schrecken feststellen, dass der Briefkasten nicht mehr da war. Ich schaute mich um und suchte nach einem neuen, doch ich konnte nichts finden. „Na toll, jetzt muss ich auch noch klingeln" fluchte ich innerlich, denn mir war mittlerweile wirklich kalt und ich wollte diesem Psychopath ganz und gar nicht begegnen. Leider blieb mir nichts anderes übrig. Also nahm ich meinen Mut zusammen und drückte auf den vergilbten Klingelknopf. „Müller. Was für ein Zufall" dachte ich. Meine Hand zitterte etwas. Kaum hatte ich geklingelt öffnete sich die Tür auch schon, ohne, dass Schritte zu hören waren, grade so als hätte jemand hinter der Tür auf mich gewartet.

Ich staunte nicht schlecht als mir eine kleine, alte Frau die Tür öffnete. Sie sah etwas zerzaust aus,als hätte sie gerade geschlafen.

„Kann ich Ihnen helfen?" flüsterte sie mit heller Stimme und sah mich argwöhnisch an. Ich war froh, nicht auf Herr Müller selbst getroffen zu haben, auch wenn ich gar nicht wusste, dass außer ihm noch jemand in diesem Haus wohnte. Wer war sie? Seine Mutter?

„Ich äh... wollte die Zeitung bringen. Leider konnte ich keinen Briefkasten finden deshalb wollte ich sie einfach persönlich abgeben. Die ist für Herrn Müller." versuchte ich mich zu erklären während ich die Zeitung hoch hielt und freundlich lächelte.

Der fragende Blick der alten Frau verwandelte sich langsam in ein Lächeln und sie öffnete die Tür etwas weiter. „Oh aber natürlich, danke." sie streckte die Hand aus um nach der Zeitung zu greifen, doch dann hielt sie plötzlich mitten in der Bewegung inne. „Möchten Sie rein kommen? Sie sehen aus als wäre Ihnen furchtbar kalt." fragte sie jetzt. Ich stockte kurz. Eigentlich war dieses Haus meine letzte Station und mein Zuhause nur ein paar Minuten entfernt, wieso also sollte ich jetzt zu dieser seltsamen alten Frau ins Haus gehen, in dem dieser komische Typ wohnte? Nun vielleicht, weil mir wirklich kalt war und mich das lange Umherlaufen wirklich angestrengt hatte, vielleicht auch einfach, weil meine Mutter mich gelehrt hatte niemals Vorurteile zu haben oder aber einfach, weil ich schon immer verdammt neugierig war. Egal was es war, ich willigte ein.

Die Frau trat eine Schritt zur Seite und bedeutet mich mit einer einladenden Geste das Haus zu betreten. „Ich bin übrigens Frau Müller. Sag einfach Ilse zu mir." sagte sie noch bevor sie mir ein Paar Filzpantoffeln hinstellte. Mir war es egal gewesen, dass sie mich auf einmal duzte, wahrscheinlich hatte sie erst jetzt, bei näherem Hinsehen bemerkt, dass ich noch nicht so alt war. „Ich heiße Lisa, danke, dass ich mich kurz aufwärmen darf." antwortete ich. Statt etwas zu sagen lächelte sie mich freundlich an und musterte mich dabei. Auch ich betrachtet sie. Ich war nur 1,70m groß und dennoch reichte sie mir gerade bis zur Brust. Ich schätze sie auf circa 70, vielleicht 75. Sie trug eine lilafarbene Kittelschürze mit hellen Blüten darauf. Darunter einen grauen Pullover und beige Stoffhosen. Im Haus roch es nach Essen, was genau konnte ich nicht ausmachen, irgendwas mit Zwiebeln. Ich hängte meine nasse Jacke an einen freien Haken an der hölzernen Garderobe, welche den ohnehin kleinen Flur noch winziger erscheinen ließ. Auf der rechten Seite führte eine schmale Treppe steil nach oben. Links ging es in ein großes Wohnzimmer. Ilse führte mich hinein und bat mich Platz zu nehmen. Sie ließ mich kurz allein um Tee aus der Küche zu holen und ich nutze die Zeit um mich weiter um zu sehen. Eine Sache fiel mir sofort ins Auge. Das Gemälde einer jungen Frau nämlich. Es hing direkt über dem Sofa an der Wand. Es war in schwarz weiß gezeichnet und hatte eine faszinierende Ausstrahlung. Sie lag nackt auf einem Fell und bedeckte ihre Brüste mit ihrem rechten Arm, sie lächelte nicht. Sie hatte einen starren aber ausdrucksvollen Blick. Ihr Gesicht war ebenmäßig und filigran. „Sie ist wunderschön nicht wahr?" sagte Ilse, die jetzt plötzlich wieder genau neben mir stand. Ich zuckte zusammen. Ich hatte sie überhaupt nicht bemerkt. Sie musste wohl gemerkt haben wie sehr ich mich erschrocken hatte, denn sie sah mich besorgt an bevor sie sich entschuldigte. „Wer ist sie?" fragte ich während ich ihr die Tasse Tee abnahm die sie mir reichte. „Das war meine Schwiegertochter." antwortet sie mit belegter Stimme. Ich sah sie fragend an: „Oh... was ist passiert?" Ich bereute die Frage so wie sie mir über die Lippen kam. Ilse setze sich in einen dick gepolsterten Sessel und nippte an ihrem Tee. „Sie ist vor einiger Zeit fortgezogen. Sie hat alles hier gelassen, nur meine Enkelin hat sie mitgenommen. Wohin sie verschwunden ist wissen wir beide nicht. Niemand weiß das, vermutlich ist sie durchgebrannt mit einem anderen Mann. Ich vermisse meine Enkelin. Sie müsste jetzt in etwa so alt sein wie du." wieder nippte sie an ihrem Tee und schüttelte kaum merklich den Kopf. Ich wusste nicht, dass Herr Müller eine Tochter hat. Schon gar nicht, dass sie in meinem Alter ist. „Hat denn niemand nach Ihrer Enkelin gesucht? Sie ist doch minderjährig." fragte ich weiter nach. Ich stand noch immer mitten im Raum aber ich wollte mich auch nicht setzen bevor man mich nicht dazu aufforderte.

Ilse schüttelte den Kopf: „Nein niemand hat nach ihr gesucht, dafür hätte sie erst einmal jemand suchen lassen müssen." Ich verstand nicht was sie meinte. Wenn Herr Müller doch ihr Vater ist, wird sich doch wohl um sie sorgen oder etwa nicht? Mein Gesicht sprach wohl Bände denn Ilse lächelte schwach bevor sie direkt weiter sprach: „Ich weiß was du dir jetzt denkst aber mein Sohn hat seine Gründe, und außerdem schickt ihm seine Tochter jedes Jahr an Weihnachten eine Karte... viel mehr mir eigentlich aber immerhin ein Lebenszeichen. Du musst dazu wissen, ihr Geburtstag ist der 24. Dezember.... Ah unser kleines Christkind. Wenn sie nur ihre Adresse auf den Briefen angeben würde, dann könnte ich ihr wenigstens einmal antworten und ihr ein Geschenk schicken aber scheinbar will sie das ja nicht." Ilse seufzte laut und stand wieder auf.  

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⏰ Last updated: Apr 03, 2020 ⏰

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