Die Corona-Apokalypse I

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Völlig durchgefroren kauerte die junge Frau zitternd neben ihrer schwarzen Reisetasche im menschenleeren Gang und betete still, dass er ihr öffnen würde. Immer wieder ballte sie ihre steifen Finger zu einer Faust und schlug geräuschvoll gegen die massive Wohnungstür. „Jetzt mach schon auf!", stöhnte die zusammengesunkene Gestalt im Hausflur schwach und strich sich mit der freien Hand das nasse Haar aus dem Gesicht. Der bloße Gedanke daran, die wohltuende Wärme des Gebäudekomplexes im East End wieder gegen den strömenden Regen einzutauschen, ließ sie verzweifelt aufseufzen. Es war wirklich zum Schreien. Wäre die Lage nicht so verdammt aussichtslos gewesen, hätte Y/N in Anbetracht ihrer gegenwärtigen Situation vielleicht sogar gelacht. Ganz offensichtlich hatte sie ihren Verstand verloren, anders konnte sie sich nicht erklären, warum sie um 3 Uhr früh an die Tür ihres Ex-Freundes hämmerte. 

Ein hysterisches Grinsen huschte nun unaufhaltsam über ihr Gesicht, verwandelte sich jedoch sofort in einen ausgewachsenen Hustenanfall. „Scheiße", krächzte Y/N und schnappte durch den weißen Mundschutz nach Luft. Hätte ihr jemand vor ein paar Wochen weismachen wollen, dass sie sich an einem Freitagmorgen im März tropfnass vor seiner Wohnung wiederfinden würde, hätte sie ihn wohl für verrückt erklärt. Aber das war lange vor der verdammten „Corona-Apokalypse" gewesen. Und wie sagte man doch so schön: Verzweifelte Zeiten erforderten verzweifelte Maßnahmen.

Die junge Frau seufzte zitternd, zog die Atemmaske herunter und blies warme Luft in ihre eiskalten Hände, die sie zu einem Trichter geformt hatte. Im alles erstickenden Strudel der Krise gerieten die sorgfältig aufgestellten Regeln und Vorsätze Timothée Chalamet betreffend immer weiter in Vergessenheit.

Y/N wusste von Pauline, dass sich der Schauspieler seit ein paar Tagen wieder in New York aufhielt, nachdem sein Londoner West End Debut an der Seite von Eileen Atkins nach langem Hin und Her in letzter Konsequenz geplatzt war. „Aus der Traum vom europäischen Theater", murmelte die junge Frau und ärgerte sich, als kurzerhand das Gefühl von Schadenfreude in ihr hochstieg. Sie wollte keine dieser verbitterten Frauen sein, die nicht über das Ende einer Beziehung hinwegkamen und dem Ex-Partner missgünstig und zynisch gegenüber auftraten. Vor allem nicht, weil sie diejenige war, die ihn verlassen hatte, aber das war eine andere Geschichte. Ihr moralischer Kompass war ihr jedoch wie immer keine große Hilfe und so beschloss sie schlichtweg, dass ein bisschen Schadenfreude noch niemanden umgebracht hatte. Die Lungenentzündung, die ihr blühte, wenn sie nicht bald aus den nassen Klamotten herauskam, würde sie jedoch mit Sicherheit ins Jenseits befördern. „Scheiße", presste Y/N hustend hervor und bemühte sich verzweifelt ihre Atmung zu kontrollieren.

Als sie gerade erneut zum Klopfen ansetzen wollte, wurde die Tür plötzlich unerwartet schwungvoll aufgerissen und ein sichtlich verblüffter Timothée starrte seine Ex-Freundin an, die mit offenem Mund und erhobener Faust im dunklen Flur stand. 

„Y/N?", stieß er überrascht hervor und rieb sich ungläubig die rotunterlaufenen Augen. Einen Moment lang musterten sich beide wortlos und der jungen Frau schoss bei der Erkenntnis, dass er natürlich bereits geschlafen haben musste, die Röte ins Gesicht. Ihr Blick glitt suchend an seiner Halsbeuge entlang und fokussierte schließlich das kleine Muttermal über seinem Schlüsselbein. Er war immer noch verdammt attraktiv, unverschämt attraktiv, dachte Y/N und verscheuchte schnell die Erinnerungen, die sich bei seinem Anblick unaufhaltsam in ihr Gedächtnis drängten. Hunderte Male hatte sie sich in der Dunkelheit ihres gemeinsamen Schlafzimmers an seinen nackten Körper geschmiegt und jeden Zentimeter seiner weichen Haut mit ihren Lippen erkundet, bis er vor Erregung fast den Verstand verloren hatte. Verdammt, sie wusste besser als jede andere, wie er kurz nach dem Aufwachen aussah.

Timothées tiefes Seufzen durchbrach schließlich die Stille. Er betrachtete sie immer noch merklich irritiert, während er vorsichtig aus dem Schatten der Wohnungstür hinaustrat und seinen Blick misstrauisch den schmalen Flur entlangschweifen ließ. Erst als er sicher sein konnte, dass sie alleine waren, entspannten sich seine Schultern und er lehnte sich mit verschränkten Armen an den zerkratzen Türrahmen.

„Was willst du hier?", seine Stimme war zwar schlaftrunken, jedoch scharf genug, um sie mitten ins Herz zu treffen. Y/N biss sich auf die Zunge und senkte den Kopf ein Stückchen. Obwohl sie mit einer schroffen Reaktion gerechnet hatte, löste sein Verhalten eine Welle von Übelkeit in ihr aus. Wie ein Reh im Scheinwerferlicht verharrte sie regungslos schweigend vor seiner Tür und wich konzentriert seinem bohrenden Blick aus. Sie hasste es, um Hilfe bitten zu müssen. Genauer gesagt hasste sie es, ausgerechnet ihn um Hilfe bitten zu müssen. Die Stille nagte unnachgiebig an Y/N wie ein Raubtier an seiner Beute.

„Verdammt! Was machst du hier? Es ist mitten in der Nacht!", brach es plötzlich so distanziert und kühl aus dem Schauspieler heraus, dass Y/N am liebsten auf dem Absatz kehrt gemacht hätte. Timothée versuchte gar nicht erst sein Missfallen über die nächtliche Störung zu verbergen und die Blondine konnte es ihm nicht einmal verübeln. Seiner Verfassung nach zu urteilen hatte sie ihn tatsächlich direkt aus dem Bett geholt. Das schwarze wellige Haar stand wirr in alle Richtungen von seinem Kopf ab und sein hageres Gesicht wirkte ebenso verknittert und farblos wie die karierten Boxershorts und das weiße T-Shirt, das er ganz offensichtlich achtlos auf dem Weg zur Tür übergestreift hatte. Es hing verkehrtherum an seinem schlanken Oberkörper herunter und ließ ihn noch schmaler erscheinen als er es ohnehin schon war. Ob er auf das Shirt verzichtet hätte, wenn er geahnt hätte, dass sie es war. Schnell schob die zierliche Frau den Gedanken beiseite und zwang sich den Kopf zu heben. 

„Hey", erwiderte sie endlich und starrte auf das Etikett an seinem Hals, da ihr plötzlich die Kraft fehlte ihm in die Augen zu schauen. Vielleicht war in ihrem Fall Angriff tatsächlich die beste Verteidigung. Was hatte sie schon zu verlieren. Ihr Leben war doch bereits komplett im Eimer. Da kam es auf eine Niederlage mehr oder weniger auch nicht mehr an. Eine Abfuhr von Timothée würde sie ganz sicher nicht aus der Bahn werfen. Oder vielleicht doch?

„Ich brauche deine Hilfe", erklärte sie geradeheraus und war verblüfft über die Leichtigkeit, mit der ihr das Geständnis plötzlich über die Lippen kam. „Ich weiß nicht, wohin ich sonst gehen soll."

Er sah sie schweigend an. Der eben noch abweisende Gesichtseindruck wurde etwas neutraler und wich schließlich ehrlicher Neugierde. Timothée war trotz seiner Wut zu intelligent, um zu ignorieren, dass Ex-Freundinnen nicht grundlos mitten in der Nacht auf der Türschwelle ihrer Verflossenen auftauchten. In der Regel wollten sie jedoch keine Hilfe, sondern Sex. Bei dem Gedanken an Sex mit Y/N wippte sein Schwanz in seiner Hose auf und ab und er war plötzlich froh, dass die Boxershorts zu groß waren. Es ärgerte ihn, dass die Gegenwart seiner vollkommen durchnässten Ex-Freundin ihn erregte, beschloss seine Wut auf sich selbst jedoch nicht an ihr auszulassen.

„Was ist passiert, Y/N?", fragte er daher etwas versöhnlicher als zuvor und schien erst jetzt zu bemerken, dass sie zitterte wie Espenlaub. Er ignorierte das plötzliche Verlangen sie in den Arm zu nehmen und hörte weiter zu.

„Ich habe den Job im Café verloren", antwortete die junge Frau leise und schämte sich, obwohl es keinen Grund dazu gab. Der Corona-Shutdown hatte bereits unzählige New Yorker völlig unverschuldet ihren Job gekostet. „Und das Zimmer auch...", fügte sie zitternd hinzu und konnte plötzlich die Tränen nicht länger zurückhalten. „Jake, der Idiot, hat mich einfach vor die Tür gesetzt, als ich gestern die Miete nicht mehr zahlen konnte!", schluchzte sie nun völlig verzweifelt und schlug die Hände vors Gesicht.
Timothée nickte wissentlich und gab den Weg in sein Apartment frei. „Komm' rein".

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⏰ Letzte Aktualisierung: Apr 10, 2020 ⏰

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