Die Große Welle vor dem Berg

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Ich war 12 damals, als ein Unwetter aufzog. Tiere können es fühlen, wenn sich die schwarzen Unwetterwolken versteckt anbahnen – wie, das weiß ich nicht – aber mir ging es ähnlich an diesem Tag. Ja, man konnte tatsächlich schon länger beobachten, dass es unruhig wurde, wo ich lebte.
Am 5. September allerdings war es gekommen. Ich stand mit meinem Vater, meiner Mutter und meinen drei Geschwistern vor unserer Wohnung mit der Hausnummer 64B, und konnte meinen Blick nicht von dieser weißen Wand mit dem weißen Garagentor lösen. Was ich genau dachte weiß ich nicht mehr, schließlich liegt es schon so weit zurück, dass wir dort standen, aber es war surreal. Dieses Garagentor war ziemlich ramponiert – wir haben es als Kinder immer als Fußballtor missbraucht – und doch, oder vielleicht deswegen, wollte ich es nicht loslassen.
Das würde ich in den kommenden Jahren lernen müssen, loszulassen. Vielleicht besteht auch der Reifungsprozess einer Menschenseele darin, Gedanken und Emotionen hinter sich zu lassen. Man muss neue Türen öffnen, um durch das ganze Haus hindurch zu gehen, ansonsten rennt man gegen eine Wand.
Neben dem Garagentor lag ein kleiner Unterstellplatz, unter einer Treppe, die zur Haustür führte. Dieser Unterstellplatz bereitete mir, wie so oft die letzten Tage, großen Kummer. Jahre und Jahre, Zeiten und Zeiten war dieser Platz vollgeparkt. Die Fahrzeuge gehörten alle mir und meinen Brüdern – Traktoren, Go-Karts, Fahrräder, Dreiräder (Panzer, Rennwagen, Autos und Raumschiffe). Meine Mutter suchte und sucht immer die Ordnung, aber diesen Unterstellplatz hatte auch sie nie im Griff. Und doch gingen von hier aus die meisten Abenteuer los, als Piraten, Soldaten und Jedi-Meister.
Das Haus an sich wirkte damals noch sehr beständig und sicher, wie ein Fels in der Brandung, aber in den nächsten Stunden würde ich erfahren, wie dieses Haus mit einem Mal weggespült wird. Die Welle, die nahte, entstand durch das Gewitter, und sie war gewaltig groß, ihre Brandung ähnelte Klauen, die nach den Bootsfahrern griffen, mit dem einzigen Ziel, sie unter Wasser zu halten.
Wir waren diese Bootsfahrer, nur ließen wir uns nie bezwingen. Schließlich ist die Familie wie ein Berg, und nicht die größte Welle in Menschengedenken konnte je einen Berg wegspülen. Berge sind Land, an dem man überleben kann, auch wenn die Wolken ganz oben so oft so bedrohlich wirken. Viele Menschen haben Angst davor, Berge zu bezwingen. Und ja, man kann sich beim Erklimmen verletzen, sogar sterben, aber wenn man den richtigen Weg zwischen Wagemut und Zurückhaltung wählt, ist man so sicher, als wäre man angeseilt. Meine Familie zeigte mir immer den richtigen Weg auf den Berg, so dass ich nie um die Tiefe fürchten musste.
So standen wir also ziemlich lange, alle wortlos, unfähig zu sprechen, und starrten auf dieses Haus, auf das weiße Quadrat. Die Welle hatte uns schon erfasst, ohne dass wir es merkten, aber sie zog uns nicht mit sich. Nun treten zwei meiner Freunde auf, die mich verabschieden wollten. Ich behielt die Fassung, sah ihnen aber an, dass auch sie sich von der Welle fürchteten. Es jagte mir Entsetzen ein, Freunde so traurig zu sehen.
Elias und Martin kannte ich seit dem Kindergarten. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie wir uns kennenlernten, aber die Freundschaft hielt über die Jahre beständig, auch wenn sich unsere schulischen Wege trennten. Auch Freunde können wie ein Rettungsring fungieren, vielleicht sogar wie ein Rettungshubschrauber. Wir fühlen uns in Rettungsringen und Hubschraubern zwar oft sicherer als auf dem Berg, jedoch kann ein Rettungsring untergehen oder ein Hubschrauber abstürzen. Am Ende sind sie gefährlicher als Berge.
Aber bei diesen war es klar, dass sie mich nicht untergehen lassen würden. Elias sah ich fast jeden Tag, und wir spielten mit Spielzeugwaffen, das kann man als Kind nicht lassen, und wir wurden gemeinsam groß. Zwar sehen wir uns kaum mehr, aber unsere Freundschaft hält immer noch. Wenn wir uns sehen, sehen wir uns gut.
Martin setzte ich als Kind (Kinder sind oft sehr gemein) manchmal an zweite Stelle. Heute weiß ich zu schätzen, wie sehr unsere Freundschaft anhielt. Wir reden viel, machen viel, (trinken viel), lachen viel. Sollte ich vertrauensvollste Freundschaften aufzählen, zählte ich ihn sicher mit, wenn ich ihn nicht sogar als einzigen zählte.
Und alle waren da, und wir redeten, verabschiedeten uns, ja, verabschiedeten uns noch einmal. Ich weiß noch, wir setzten uns in die Autos, ich bei meinem Vater, einer meiner Brüder, ich weiß nicht mehr welcher, bei meiner Mutter. Mir war nach Weinen, aber das würde ich lange nicht mehr tun. So oft und so lang behielt ich meine Contenance, auch wenn ich sie manchmal für längst verloren hielt. Vielleicht half mir das, vielleicht schadete es, das kann ich nicht sagen.
Auf dem Weg vom alten Zuhause zum zukünftigen liegt eine große Brücke. Meine Mutter träumte oft schlecht davon, und an diesem Tag bekam ich das zu spüren. Diese große Welle, die unheimliche, heimtückische, war zwar nicht sichtbar, aber spürbar. Wir fuhren zwar, und mein Vater fuhr gut, aber alle merkten, dass wir den Halt verloren. Hinter einer Tür kann es oft rutschig werden, und wenn man nicht aufpasst, fällt man.
Ich habe hier von dem Tag berichtet, als wir umzogen. Die Bauphase war zehrend, raubte uns viel Kraft, aber erst als wir auf dem Weg in die neue Heimat – Lust am Leben – waren, wurde das Surreale hyperreal, und ich musste mich anpassen.
Seid ihr nicht gelangweilt? Oder seid ihr es? Könnt ihr verstehen, wovon ich rede?
Diese Geschichte wird Höhen und Tiefen haben, lustige und traurige Zeiten, und sie wird nicht lange dauern. Ich hoffe, ihr bleibt.

Halt findenWhere stories live. Discover now