Ich griff seine Hand, kletterte die Stufen hinunter und fand mich auf einem Trottoir wieder. Zu beiden Seiten erstreckten sich ähnlich imposante Häuser. Verzierte Gauben und Giebel. Verschnörkelte Fensterrahmen, Stuck, Malereien, die ein oder andere Statue, die auf die Vorbeigehenden hinunterblickte. Renn, sagte ich mir. Renn einfach los. Aber meine Beine waren wie Blei und versagten ihren Dienst. Ich konnte mich für keine der beiden Richtungen entscheiden. Dann schrei wenigstens, aber auch meine Stimme blieb stumm. Ein klägliches Wimmern war alles, was meiner Kehle entfleuchte.
Er fasste meinen Arm und zog mich mit sich. Im gleichen Augenblick öffnete sich die schwere Eingangstür und eine weibliche Gestalt erschien im Türspalt. Ich erschrak. Ein bleiches Gesicht unter einer Haube, ein unmoderner Kragen und eine weiße Schürze. Sofort wurde das blasse Mädchen zur Seite gestoßen und eine junge Dame bahnte sich ihren Weg an ihr vorbei.
"Jost! Na endlich! Da seid ihr ja!" Sie stürmte auf meinen Begleiter zu. Blieb kurz vor uns stehen und schaute mich aus großen blauen Augen an. "Und du bist sicherlich Luise." Sie streckte mir eine Hand entgegen. "Schön, dass du endlich da bist."
"Sophie!", rief eine Stimme von der Treppe. Eine weitere Frau war zu dem bleichen Mädchen mit der Haube und der Schürze getreten. Sie trug einen weit ausgestellten Rock, der ihre schmale Taille betonte und einen hoch geschlossenen Kragen. Ihre aschblonden Haare waren streng nah hinten gekämmt. Ihr Blick war tadelnd. "Jetzt lass unseren Gast doch erst einmal ankommen." Sie machte einen steifen Schritt in unsere Richtung, während mein Begleiter, Jost, mich immer noch wie eine willenlose Puppe in Richtung der Stufen führte und Sophie, die ihre Hand wieder gesenkt hatte, aufgeregt weiterplapperte. Ich nahm ihre Worte kaum wahr. Die Kulisse und die Kostüme waren überwältigend. Ich schluckte.
"Das ist der Wahnsinn." Jost blieb hinter mir, während Sophie vor mir die Stufen nahm. Ihre Zöpfe wippten dabei im Takt. Ihr hellblaues Kleid wirkte weniger streng als das der älteren Frau. Mit einem kurzen Nicken registrierte ich deren Namen und Begrüßungsworte. Dann war ich durch die Tür.
Mit offenem Mund zog ich das Innere auf. "Ganz anders, als erwartet. So echt habe ich mir ein Filmset gar nicht vorgestellt. Wo sind die Kameras?", fragte ich und blickte mich um. Fast fühlte ich mich in eine andere Zeit versetzt.
"Kameras?" Die Frau namens Berta wirkte erstaunt. Jost zuckte nur die Schultern und zeigte eine ratlose Miene. Er war wirklichg gut, das musste man ihm lassen.
"Sie ist aber nicht verrückt?", flüsterte Sophie und versteckte sich vorsichtig hinter dem weit ausladenden Rock der anderen.
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Es ist alles eitel (Kurzgeschichte)
Short StoryEine Kurzgeschichte, die euch aus dem Jahr 2020 entführt, in andere, längst vergangene und vergessene Zeiten. Aber auch in dieser Zeit gibt es ein großes Problem. Denn nichts was ist, wird ewig sein und alles was kommt, war längst schon da.