1

336 34 16
                                    

Es ist bestimmt nicht Jenos Schuld, dass ich in der ersten Woche des nächsten Semesters wieder frühmorgens im Coffeeshop stehe.

Und wie erwartet kommt er gegen vier Uhr durch die Tür geschwankt und ein Leuchten der Wiedererkennung blitzt in seinen Augen auf.

"Jaemin."

"Guten Morgen, Jeno", lächle ich. Seine Erwiderung erhöht meinen Puls ein wenig.

"Hast du immer noch Ferien?"

"Nein."

"Wieso bist du dann hier und nicht im Bett?" Deinetwegen.

"Einfach so. Es steht momentan keine Arbeit an, und Notizen lassen sich auch in müde machen."

"Hm." Er mustert mich kurz. "Du siehst nicht so müde aus wie letztens."

"Bin ich auch nicht." Kurz schweige ich. "Aber du schon."

"Ich habe die letzten drei Tage zehn Stunden Schlaf gehabt, glaube ich." Er zuckt mit den Schultern. "Mein Melatonin mag mich nicht mehr."

"Melawas?"

"Melatonin. Das Schlafhormon." Heilige Scheiße, schlau ist er auch noch oder was?

"Ach so. Kannst du dich heute entscheiden?", wechsle ich das Thema schmunzelnd. Er sieht mich verwirrt an, aber seine Augen leuchten für den Bruchteil der Sekunde in Erkenntnis auf.

"Keine Ahnung. Der Löffel war schon gut."

"Also wieder einen?"

"Ja. Aber mit zwei Körnern weniger als beim letzten Mal." Ich rolle lächelnd mit den Augen und wende mich der Kaffeemaschine zu.

"Wenn du die Zahl noch im Kopf hast, lässt sich das bestimmt machen."

"Ich konnte Mathe", sagt er nachdenklich, "aber jetzt nicht mehr."

"Ich konnte Mathe noch nie." Ich muss mir ein Grinsen verkneifen, dass er so zusammenhangslos drauflosspricht.

"Was konntest du?"

"Englisch."

"Kann ich nicht mehr. Da ist kein Platz mehr für irgendwas." Er tippt sich gegen die Stirn. "Nur für Noten und Texte und Klänge."

"Dann musst du wohl ausbauen."

"Darauf habe ich keine Lust." Ich schiebe ihm grinsend seinen Kaffeebecher zu. Er hat das Geld bereits herausgeholt und nimmt ihn vom Tresen, während er es mir zuschiebt.

"Ich wünsche dir einen schönen Tag, Jeno."

"Ich dir auch, Jaemin."

Schon schwankt er wieder aus der Tür.

Bitte komm bald wieder...

━━━━━━━━ ⸙ ━━━━━━━━

Zwei Tage später bin ich wieder morgens da, und diesmal taucht Jeno kurz nach halb vier bereits auf.

"Guten Morgen, Jeno." Er hebt nur müde die Hand und erwidert nichts. "So wie beim letzten Mal?" Er nickt und ich mustere ihn. Er sieht noch müder aus als sonst. "Was ist, ist es die Uhrzeit?"

"Der Melatoninspiegel ist beim Menschen zwischen zwei und vier Uhr am höchsten. Heißt, da ist man am müdesten. Danach sinkt er langsam wieder."

"Ein Ja hätte gereicht", schmunzle ich und mache ihm seinen Kaffee.

"Ich bin müde."

"Ich merk das schon." Und es ist wirklich niedlich.

Ich spüre seinen Blick auf mir, aber ich sage nichts. Werfe ihm nur einen heimlichen Blick über die Schulter zu und bemerke die Tinte an seinen Fingern.

"Na, geschrieben?" Ich deute auf den blauen Fleck an seinem Zeigefinger, als ich mich wieder zu ihm drehe.

"Ja. Die Inspiration hat zu mir zurückgefunden." Er zieht eine müde Grimasse. "Wurde auch wieder Zeit."

"Bist du immer nur morgens hier?", frage ich leise.

"Manchmal komme ich nachmittags, wenn ich nicht schlafen kann."

"Du bist echt die größte Nachteule, der ich je begegnet bin."

"Froh bin ich nicht darüber." Er legt mir das Geld hin, aber ich gebe ihm den Becher noch nicht.

"Ich kippe um, wenn ich nicht bald meinen Kaffee kriege", protestiert er schwach.

"Komm morgen Nachmittag zwischen drei und vier hierher. Ich bezahle deinen Kaffee auch."

"Was wird das?", fragt er verwundert.

"Ich will mehr mit dir reden als nur so kurz", gestehe ich, den Becher in meiner Hand hin und her drehend, "du bist mir sympathisch." Und ich habe einen dezenten Crush auf dich.

"Hm. Heute oder morgen?"

"Du kannst dir meinetwegen sogar etwas aussuchen."

"Morgen. Dann kann ich vorher noch schlafen und tauche dann vielleicht in vernünftigen Klamotten auf."

"Klingt gut." Ich schmunzle. "Aber so nehme ich dich auch." Vielleicht sogar etwas lieber.

"Also sehen wir uns zwei Tage in Folge." Sein rechter Mundwinkel zuckt in die Höhe.

Ich schiebe seinen Becher über den Tresen. "Finde ich gut."

"Mhm. Bis morgen, Jaemin." Er wendet sich ab und sieht so zum Glück nicht, dass ich rot werde.

"Bis morgen, Jeno."

━━━━━━━━ ⸙ ━━━━━━━━

Ich habe gerade ein neues Kapitel angefangen, als der Stuhl vor mir zurückgezogen wird und Jeno darauf Platz nimmt. Ich sehe also auf, schiebe mein Lesezeichen zwischen die Seiten und lächle zu ihm auf. Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass ich sich meine Nervosität von gestern morgen nicht noch einmal mindestens verdoppelt hat.

"Du siehst ja richtig ausgeschlafen aus", bemerke ich grinsend, und er lacht.

"Ich habe mir sogar Mühe mit meiner Kleidung gegeben." Jeno sieht an sich herunter und ich folge seinem Blick. Er trägt einen Sweater und schwarze Jeans, und wüsste ich es nicht besser, hielte ich ihn für einen geordneten Studenten.

"Ich fühle mich geschmeichelt." Dagegen bin ich in meinem weißen Hemd wohl eher alltäglich angezogen – wobei ich es extra bei unseren Nachbarn gebügelt habe, da diese im Gegensatz zu unserer WG ein Bügeleisen besitzen.

"Solltest du auch." Jeno zupft an seinem Ärmel herum. "Ich bin bestimmt seit zwei Wochen nicht mehr in Jeans draußen gewesen. Aber das macht mehr Spaß als in Jogginghosen, da fühle ich mich mehr wie ein Mensch."

"Musiker sind Menschen?"

Er grinst über meinen übertrieben geschockten Ton. "Ja, das wissen viele nicht. Aber wir sind tatsächlich ebenso homo sapiens sapiens wie ihr Normalmenschen es seid."

"Manchmal frage ich mich, wie jemand, dessen Aktivität nachts zwischen eins und fünf am höchsten ist, so viel Platz für so eine Sprechweise hat."

"Wieso, wegen des homo sapiens sapiens? Das ist Grundwissen."

"Ja, ich weiß, aber das benutzt doch niemand im Alltag."

"Nur Musiker."

Ich muss lachen. "Nur Musiker."

"Apropos", ein fröhliches Strahlen tritt in Jenos Augen, "ich habe gestern ein neues Lied veröffentlicht und damit hundert Fans erreicht."

"Es tut sich was!" Mein Grinsen steckt ihn an.

"Ja. Wurde auch Zeit."

"Ich möchte mir auch mal anhören, was du so zustandebringst. Wo finde ich dich?"

"Sicher, dass du dir das antun willst?" Es scheint ihn in Verlegenheit zu bringen. "Es ist wirklich nicht gut."

"Hey, irgendeinen Grund werden deine hundert Fans ja wohl haben, oder? Bitte, Jeno!"

Er seufzt geschlagen. Ich weiß schon, was ich nachher tun werde.

20 04 11

yeonggam ✦✦ nomin ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt