Seit einer Woche steht alles Kopf. Seit einer Woche laufen die Nachrichtenkanäle heiß. Weltweit. BBC, CNN, China Central Television. Sie alle berichten. Über die globalen Schlagzeilen verteilen sich die gesichtslosen Zahlen Infizierter und Sterbender. Täglich geben das Robert-Koch-Institut und die John-Hopkins-Universität der deutschen Bevölkerung Updates zur Lage der Nation unter dem Einfluss der Pandemie: COVID-19.
COVID-19 ist der Wissenschaftsname, der mittlerweile in nahezu popkultureller Manier in aller Munde ist. Zu Anfang noch in humoristischer Abstinenz. Jedem Huster begegnete Mattis unbedarft leichtfüßig: „Corona?". Doch die Lage verschärfte sich schneller als gedacht und Mattis mittendrin, als er sich aus dem Süden Skandinaviens mit dem Zug in den Nordwesten Deutschlands aufmacht.
Voller Vorfreude sitzt Mattis neben seinem Trackingrucksack und über seinem viel zu großen Rollkoffer in einem nahezu leeren Pendler*innenzug zur Stoßzeit in dem abgewetzten Sessel des schwedischen Öresundståg. Die Verbindung, perfekt. Von seiner südschwedischen Wahlheimat würde er durchfahren bis in die dänische Hauptstadt Kopenhagen. Dann Hamburg. Dann nach Hause. Noch ahnt Mattis nicht, dass aus dieser transitiven Ortsbestimmung nach Hause in wenigen Tagen ein stationäres zu Hause werden würde. Er stationär zu Hause bleiben würde.
„Darf ich schon einsteigen?", fragt Mattis die starre Schaffnerin ungestüm mehr als eine halbe Stunde vor Abfahrt des Zuges von København Central nach Hamburg Hauptbahnhof. Ob er ein Ticket habe, eine Sitzplatzreservierung? „Ohne ein Reservierung darf Sie nicht einsteigen wegen das Corona", deutet die dänische Schaffnerin mit ihrem Zeigefinger die Rolltreppen hinauf in die Sammlungshalle. „An die Geräten können Sie oben ein Sitzplatz kaufen."
Den Bahnsteig verlassen, dreißig Minuten vor Abfahrt, das macht Mattis sonst nie. Schockstarre. Mattis klebt am Kaugummi gesäumten Gleis fest. Sein Trackingrucksack verstärkt die Bodenhaftung durch das Gewicht auf seinen Schultern. Der Rollkoffer verkantet in den Bodenrillen.
Was ist, wenn...Die Angst, es in den verbleibenden dreißig Minuten nicht die Rolltreppen hoch und wieder hinunter zu schaffen, in der 50 Meter entfernten Halle einen Sitzplatz zu kaufen. Sie verfliegt und mit ihr die Sicherheit, COVID‑19 würde ihm nichts anhaben können. Mattis löst sich, entschlossen die Reservierung zu lösen. Unsicher, wie viel von COVID‑19 es benötigt, um ihn zu infizieren.
Die Menschen, die in der Halle seinen Weg kreuzen, so viel näher als die vorgeschriebenen 1,5 Meter Abstand. Der Touchbildschirm, den unzählige Menschen vorher schon betoucht haben, mit ungewaschenen Händen nach dem Niesen in die Handschaufel. Und der Fahrgast am Bildschirm neben Mattis, der ihm in Handschuhen und mit Mundschutz offenbart, seine Freundin sei einem Coronapatienten ausgesetzt gewesen. Es dämmert Mattis, COVID-19 is real und die nächsten zehn Stunden würde er sich der Gefahr nicht entziehen können, neben unerkannten Träger*innen im Zug. Auffangbecken speiender Worte und Gesten.
Doch viel schlimmer noch erwischt ihn die Dämmerung in den Tagen nach der Zugfahrt. Von Nord nach Nordwest. In die Arbeiter*innen Stadt am Meer, 250 Kilometer vor Hamburgs Toren. Mehr Niederlande als Deutschland. „Rückkehr nach Reims" nennt es der französische Autor Didier Eribon, als er nach Jahren der sexuellen Freiheit für ein paar Tage in die Enge der Kleinstadt zurückkehrt. Um seine Eltern zu besuchen. Für ein paar Tage lässt Eribon in Reims die Liebe zum entbehrlichen Luxus werden. Auch Mattis wollte seinen Eltern nur einen kurzen Besuch abstatten, wie so regelmäßig selten, seit er vor sieben Jahren auszog. Drei, vier Tage, vielleicht eine Woche. Denn zurück nach Friesland heißt auch, zurück in die Enge, wo die Blicke sich streifen, nachdem sie auf ihn treffen. Wo die Norm hetero ist, weiß und alt. Doch COVID-19 is real und damit der Lockdown, der begann, als Mattis sich aufmachte und immer einen Tag früher war als die Politik. Einen Tag vor Grenzschließung von Schweden nach Dänemark nach Hause.
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Zu Hause oder in Freiheit allein.
Short StoryWie ist es, als queerer junger Mann in die Kleinstadt zurückzukehren, während COVID-19 grassiert? Mattis entdeckt sich und das Dating neu und tritt dabei in große Fußstapfen.