Notker verdrehte die Augen. Seit Stunden ritten sie dahin unter einer erbarmungslosen Sonne an einem wolkenlosen Himmel. Kein Lüftchen regte sich und er fühlte sich selbst in seiner leichten Lederrüstung wie ein Schwein im Kochtopf. Die Pferde hoben kaum die Hufe, als sie lustlos die steinhart gebackene Straße entlang trotteten.
Burkhart dagegen schwadronierte unaufhörlich von einem Mädchen, das er kürzlich kennengelernt hatte. Der Junge glaubte, er hätte die große Liebe gefunden. Schwärmerischer Narr!
Notkers Kamerad war ein linkischer Bursche von etwa sechzehn Jahren, mit langen Gliedern und einer Körperhaltung, die verriet, dass er sich noch nicht an seine Größe gewöhnt hatte. Doch der Waffenrock eines mächtigen Adelshauses übte eine beachtliche Anziehungskraft auf Mädchen niederen Standes aus.
In seiner Jugend hatte Notker diese Wirkung schamlos ausgenutzt. Die Erinnerung malte ihm selbst jetzt noch ein Lächeln aufs Gesicht. Der Himmel mochte wissen, wie viele Bastarde er damals gezeugt hatte. Aber nun war er ein Veteran von fast fünfzig Jahren, zerschunden von einem Leben, bei dem jeder Tag der Letzte sein konnte und froh darüber, wenn er nachts nicht alle zwei Stunden pissen musste.
Zermürbt vom unaufhörlichen Geplapper des Jungen hatten sich ihre übrigen Kameraden zurückfallen lassen. Notker drehte missmutig den Kopf. Sie ritten hundert Schritte hinter ihnen und gaben sich keine Mühe, den Abstand zu verringern.
Degenhart sang Die lustige Schankmaid und an den anzüglichen Stellen brüllte Gisbert vor Lachen. Es war unglaublich, wie ein so hässlicher Mann so eine schöne Stimme haben konnte. Wenn er abends am Feuer im Feldlager Eines jungen Soldaten Weib sang, rührte er selbst die hartgesottensten Veteranen zu Tränen. Dabei war er so klein und schmächtig, dass er sich kaum als Waffenknecht in Friedenszeiten eignete. Mit Speer und Schwert war er jedoch schnell wie eine Schlange, deshalb hatte ihn Hauptmann Arnhelm trotzdem in die Garnison aufgenommen.
Sein Vetter Gisbert war um die zwanzig Jahre älter und trug einen Bauch vor sich her, als hätte er ein Schwein im Ganzen verschluckt. Notker musste unwillkürlich grinsen, als er an den blonden Hünen zurückdachte, der in der Schlacht von Auenbruch einem Pferd mit seiner Schlachtaxt den Schädel gespalten hatte. Doch die Zeit hatte ihren Tribut gefordert, ebenso wie bei Notker selbst. Sie waren beide nicht mehr so schnell wie einst, aber Gisberts Kraft war immer noch enorm. Zusammen fürchteten die beiden Vettern keinen Gegner.
Vor Burkharts Redefluss jedoch hatten sie kapituliert. Damit blieb nur Notker als Ziel seiner Schwärmerei. Er versuchte, ein Wort dazwischen zu bekommen, als der Junge Luft holte, doch der plapperte einfach weiter. Resigniert ließ der alte Soldat den Blick in die Ferne schweifen.
Hinter einer Straßenkehre begann das Land, sanft anzusteigen. Vor ihnen erhob sich ein bewaldeter Hügel, auf dessen Kuppe sich die Umrisse eines zerstörten Turms gegen den Himmel abzeichneten. Notker zügelte sein Pferd, damit der Rest der Gruppe aufschließen konnte. Burkhart hielt neben ihm an und folgte dem Blick des älteren Mannes. Er verstummte mitten im Satz und sein Mund blieb offen stehen.Was immer den Turm zerstört hatte, es war nicht einfach nur der Zahn der Zeit gewesen. Wo Moos und Gräser die Steine noch nicht überwucherten, waren sie rußgeschwärzt und die wenigen sichtbaren Balken waren verkohlt. Hier hatte ein Feuer gewütet. Und steinerne Türme fingen nach Notkers Erfahrung nur selten von alleine Feuer. Jemand war sehr wütend auf die Bewohner gewesen.
Der Herr zügelte seinen braunen Hengst.
„Was ist los? Warum haltet ihr an?" Gereiztheit lag in der Stimme des jungen Adligen. Burkharts Gequassel und die Hitze des Tages hatten ihn unleidlich gemacht und er war schon unter gewöhnlichen Umständen kein geduldiger Mann.
Notker deutete stumm auf die Ruine. Früher einmal mochte der Turm die ganze Umgebung überblickt haben. Seine traurigen Überreste jedoch waren zwischen den umstehenden Bäumen verborgen.
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Kompendium (Leseprobe)
FantasyWattys-Gewinner 2020 in der Kategorie Fantasy Wohin fliehst du, wenn dein Feind alle Macht in Händen hält? Walther war einer der vielversprechendsten Alchemisten seiner Generation. Doch eine tödliche Seuche suchte seine Heimat heim und er scheiterte...