Schnüffelnd tappte sie vorsichtig in die entgegengesetzte Richtung. Hinter ihr befand sich der Eingang zur großen Bibliothek, die goldenen Flügeltüren waren fest verschlossen. Feine Gravuren von Federn durchzogen das Gold. Hinter ihnen war kein Licht zu sehen. Die Praefecti hatten ihre Studien für diesen Abend schon lange beendet.

Trotzdem wachte Inara noch immer vor den schweren Schwingen. Der Geruch, den sie eben erst wahrgenommen hatte, kroch ihr langsam immer tiefer in die Nase, verstärkte sich mit jedem Schritt, den der sich nähernde Gast tat. Ihre Nackenhaare begannen sich aufzurichten und ein tiefes Knurren drang aus ihrer Kehle. Jetzt konnte sie den Besucher hören, wie er mit ungeschickten Beinen versuchte, sich an sie heranzuschleichen. Sie verfiel in einen leisen Trab. Die Lampen, in Form von aufgeschlagenen Büchern, schickten einen Schatten voraus, der ihren kräftigen Körper wie ein Versprechen vorausschickte. Ihr Schwanz war angespannt und in ihrem Maul sammelte sich der Geifer.
Drei Jahre lang war sie nun eine Fängerin, dennoch streichelte die Hand der Erregung jedes Mal ihr Fell, sobald sie sich allein an ihrem Wachposten wiederfand.
Doch obwohl die Anspannung ihren Körper fest im Griff hatte, musste sie innerlich lächeln. Sie kannte die Schritte genau, wusste zu welchem Menschen sie gehörten und auch warum dieser, in der dritten Nacht in Folge, versuchte, an ihr vorbei zu schlüpfen.
Inara beugte ihre Vorderpfoten, sodass ihr Bauch den glatten Marmorboden berührte und fühlen konnte, wie seine angenehme Kühle sich beruhigend auf sie legte. Die Schritte zögerten, wurden versucht leiser gesetzt zu werden. Doch sowohl Gabe als auch Inara wussten, dass die erzwungene Vorsicht wenig Sinn hatte. Sie war ein Wolf, mit Ohren so fein wie eine Eule, die ihr Beutetier noch in 60 Meter Entfernung aufspüren kann. Ihr Fell war so weiß wie Schnee, aber das war das der anderen auch. Ihre Pfoten doppelt so groß wie die normaler Hunde, sagten zumindest die Älteren, denn sie selbst hatte noch nie einen zu Gesicht bekommen. Ihre Augen, blau wie glasklares Wasser, so scharf, dass sie selbst im Dunkeln jede Bewegung wahrnehmen konnte.
Sie setzte zum Sprung an, fixierte und stieß sich mit ihren Hinterpfoten ab. Sie wollte ihn nicht zu Fall bringen, lediglich erschrecken. Dies gelang ihr auch, denn sie hörte, wie Gabriel erschrocken Luft holte, sie gierig in seine Lunge sog.
„Das musst du nicht immer machen", stieß er zwischen zusammengepressten Zähnen hervor.
Innerlich verdrehte Inara die Augen. Gabe wusste genau, was ihn erwartete, wenn er abends den Korridor zur Bibliothek entlang schlich. Trotzdem konnte er sich immer wieder darüber beschweren, wie unsanft sie ihn behandelte.
Sie tappe ein paar Schritte zurück, stellte sich quer in den Gang und hinderte ihren Freund daran, den Flur weiter zu durchqueren. Immerhin hatte sie ihm, in den letzten Monaten, erklärt, dass er hier nichts zu suchen hatte.
Er versuchte sich an ihr vorbei zu drängen Inara knurrte. Dieses Mal, war es kein spielerischer Laut, er war ernst. Genauso ernst, wie Gabriels Vorhaben, die Bibliothek zu betreten. Beschwichtigend hob er die Hände und sah sie zornig an. Sie konnte seinen Wunsch nicht verstehen, auch wenn er wiederum ihr versucht hat verständlich zu machen, weshalb er sie betreten wollte. Aber es war gefährlich. Bergen, die Stadt in der sie lebten, war eine der wenigen Städte, die nach dem Wandel der Erde Schutz bot. Sie war vor den Fluten in den Bergen Nordeuropas erbaut worden und, zumindest behauptete ihre Mutter das immer, dass ihre Familie hier leben durfte, war ein Privileg, das vielen Menschen, die während des Wandels den Tod gefunden hatten, verwehrt blieb. Wie genau ihre Familie auf diese Stadt gestoßen war, wusste sie nicht. Ihr hatte auch niemand gesagt, woher sie kamen und was vor dem Wandel gewesen war. Überhaupt wusste Inara nicht viel. Sie verfügte nur über das Wissen, das sie brauchte um in Bergen zu leben.
Das Wichtigste war die Regel. Wurde sie gebrochen, richteten die Praefecti über diejenigen, die gegen sie verstoßen hatten. So viel Inara wusste, wurden diese dann fortgebracht und kehrten nicht nach Hause zurück. Gabe hatte sich, aus welchem Grund auch immer, in den Kopf gesetzt, gegen diese eine herrschende Regel zu verstoßen: Er wollte zu den Büchern Bergens.
„Bitte", Gabe sah sie flehend an. Sie schnappte nach seiner Hand. Kopfschüttelnd wich er ein paar Schritte zurück und richtete seinen Blick erneut auf ihr Gesicht. Sie erkannte eine Dringlichkeit, die ihr nicht gefiel.
Sie sah, wie Gabriel seinen Mund zu einer erneuten Bitte öffnete, machte sich sprungbereit und wollte ihn endlich zum Umkehren bewegen, da hörte sie den anderen Wolf.
Sein Name war Bern, er war der Fänger, der Inara für den Rest der Nacht ablöste.
Ihr Körper spannte sich, sie sog die Luft ein, roch. Noch war er zwei Gänge entfernt, doch sein Duft wurde von Schritt zu Schritt stärker. Sie sprang. Einmal, zweimal. So oft sie konnte, sprang sie an Gabriel hoch, stieß ihn nach hinten, fort von der Bibliothek, fort von sich.
Wenn Bern ihn hier sehen würde, würde er es den Praefecti melden. Das war seine Pflicht, genauso wie die ihre. Sie hatte Angst. Nicht nur um ihren Freund, sondern auch um sich selbst. Sie war das erste Mädchen drei Generationen, das zu einer Fängerin ausgebildet worden war. Inara genoss den Respekt der Praefecti, sie vertrauten ihr. Sie war ihre Wächterin.
Inara schloss ihre Wolfsaugen und fühlte. Sie stellte sich ihre Menschenform vor, dachte an das Gefühl auf zwei Beinen zu gehen, an ihre langen, weißen Haare, die sie stets zu einem langen Zopf geflochten trug, an ihre Arme, die ihr immer gute Dienste leisteten. Am meisten allerdings, dachte das Wolfsmädchen an ihre Stimme. An die Möglichkeit, nur mithilfe ihrer Gedanken Worte zu formulieren, zu sprechen und Gabriel wegzuschicken.
Es funktionierte, wie immer. Die Energie strömte durch ihren kräftigen Körper, sammelte sich in ihrer Brust und erwärmte sie bis auf die Knochen. Ein Ruck ließ sie erschauern, nach Luft schnappen. Die kräftigen Pfoten begannen schmäler zu werden, zärtlicher. Die Wirbelsäule streckte und dehnte sich, richtete ihren Körper auf, der ihr Fell verlor. Der Vorgang des Wandels, den jeder Fänger erlernte, dauerte nur Sekunden und brachte keinen Schmerz mit sich. Nackt stand sie vor Gabriel. Nur ihr langes Haar bedeckte die Brüste und ihre Hände ihre Weiblichkeit. Eine Wärme stieg in ihre Wangen, die von ebenmäßigen, kantigen Knochen gestützt wurden. Nicht Scham war der Grund. Die Ausbildung zur Fängerin erforderte es oft, dass sie sich ihren Kommilitonen zeigte und diese sich ihr. Wut breitete sich in ihrem zarten Körper aus, ließ sie ihre Hände nur mit Mühe sich weiter bedecken.
„Raus!" Das Wort ging in seiner gezischten Form fast unter, verlor sich beinahe an den Wänden des Flures, von wo es sanft wiedergegeben wurde. Ihr Blick richtete sich abrupt hinter Gabe und ihr Kinn wies energisch in die Richtung, aus der ihr Freund gekommen war.
„Verschwinde, ein Fänger kommt." Die Worte halfen, erwiesen ihr den Dienst, auf den sie gehofft hatte. Die Augen eines Wolfes waren um viele Male schärfer als die ihren und auch wenn sie ein paar Sekunden brauchte, sich mit ihren erstumpften Sinnen zurechtzufinden, sah sie, wie Gabes Körper sich augenblicklich verkrampfte und die Gefahr wahrnahm, die geradewegs auf ihn zukam. Ein Nicken des Dankes und er drehte sich um und hetzte den Gang entlang.
Ein tiefer Atemzug entwich ihrer Lunge, als sie Bern gleichmäßigen Schrittes auf sie zugehen sah. Er war augenscheinlich nicht in Alarmbereitschaft, noch hatte er bereits seine Gestalt als Bär angenommen.
„Inara?", erschrocken wollte er nach ihren Händen greifen. „Ist alles in Ordnung?"
„Ich konnte meinen Geist nicht zähmen und den Wolf nicht behalten". Die Stimme war gepresst, halblaut. Inara versuchte zu wirken, als würde sie sich schämen. „Seit der Ausbildung ist mir das nicht mehr passiert, ich weiß nicht, was genau los war". Den Blick gesenkt, tastete sie sich nun vorsichtig zu Berns Gesicht vor. Überrascht stellte sie fest, dass er keineswegs enttäuscht oder verärgert war. Auch war in seinem Blick keine Verachtung oder Arroganz zu erkennen. Er war einfach ihr Kamerad.
„Keine Sorge, ich werde es nicht weiterleiten. Jeder hat einen schlechten Tag. Pass nur auf, dass dir das nicht mehr passiert. Du bist eine der besten, man vertraut dir."

Er nickte ihr zu, ein Lächeln umspielte seine Lippen.
„Bevor ich mit meiner Schicht beginne und nur mehr brüllen kann," seine Augen erstrahlten, „rate, wer heiraten wird!" Inara trat einen Schritt auf ihn zu, küsste ihn auf die Wange und lächelte. „Das ist umwerfend, Bern. Ich freue mich sehr für euch."
„Danke." Er zwinkerte ihr zu, ging an ihr vorbei und nahm seinen Posten vor den Türen der Bibliothek ein.
„Wir sehen uns." Und mit diesen Worten sah Inara ihm dabei zu, wie aus einem großen, muskulösen, rothaarigen jungen Mann, ein großer Bär, mit kräftigen Pranken und dickem Fell wurde. Wie die Sommersprossen Schnurrhaaren wichen und sich sein Mund zu einem Maul voll scharfer Zähne wandelte.
„Gute Nacht." Auch Inara wandte sich zum Gehen, sie war müde und ihre Schulter schmerzte. Die Spannung mit Gabe bekam ihr nicht gut. Die Sorgen, die ihr nun immer präsenter Gesellschaft leisteten, wirkten sich allmählich auf sie aus. Und das durfte keineswegs passieren.
Während sie den Gang entlangschritt und dabei ihren Körper bedeckte, obwohl sie nicht davon ausging, auf jemanden zu stoßen, dachte sie über noch ein Gefühl nach, das sie immer wieder beschlich, sobald sie manche der anderen Fänger sah: Die meisten Tiere waren beim Wandel, genauso wie die Menschen, gestorben. Verhungert und ertrunken. Manche Arten waren zuvor schon längst ausgestorben und, so sagt man, der Gier des Menschen zum Opfer gefallen.

Inara kannte also die Namen der Tiere, zu manchen hatte man ihr Bilder gezeigt, meist hat man ihr aber nur die Gestalt eines Fängers mit dem zugehörigen Namen erklärt.
Ihre Großmutter Margo hatte ihr heimlich einmal das Bild eines Bären gemalt. Das Fell dieses Bären war jedoch braun, fast schwarz. Nicht schneeweiß, wie das der Fänger.
Aber woher sollte Margo schon wissen, wie Bären tatsächlich ausgesehen haben? Sie zuckte mit den Schultern und beschloss, für heute nicht mehr zu denken.



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⏰ Letzte Aktualisierung: May 14, 2020 ⏰

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