Kapitel 1

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John starrte auf den Boden, als er die Straße entlang ging, die ihm ganz und gar nicht vertraut war und trat frustriert einen Stein weg. 
Diese Straße war jetzt sein zu Hause, hinter ihm ein Haus, das jetzt der Familie Watson gehörte aber noch nie im Leben hatte er sich unwillkommener gefühlt. 
Er wollte nicht hier sein und er wusste nur zu genau, dass man auch nicht wollte, dass er hier war. 
In der Hoffnung, seine Gedanken etwas leiser stellen zu können, drehte er seinen IPod auf maximale Lautstärke auf und hatte das Gefühl, es würde funktionieren, zumindest ein wenig. 
Die zweite Links, dann die dritte Rechts, war das hier schon die dritte oder hatte er sich jetzt verlaufen? Verdammt, nicht eine Straßenecke war ihm vertraut. Es war nicht sein erster Umzug, doch für gewöhnlich war er immer mit seiner großen Schwester zur Schule gegangen, die sich immer besser orientieren konnte als er, aber sie ging nicht mehr auf dieselbe Schule wie er und er selbst war nun auch schon fast volljährig und man sollte meinen, er würde es nun schaffen, sich alleine zurecht zu finden. 
Tatsächlich sah er sich ein paar willkürliche Einbiegungen später einem Gebäude gegenüber, vor dessen Eingangsportal ein Schild mit der Aufschrift „Huxlow Science Comprehensive School“ prangte. 
Missmutig betrachtete er das zugegebenermaßen imposante Gebäude. Er wusste, dass das hier eine recht angesehene Schule war und ohne seine vorherigen durchaus zufriedenstellenden Leistungen hätte er nie die Chance gehabt, hier weiterzumachen, doch er hatte sich gerade an die letzte Schule gewöhnt gehabt, hatte Freunde gefunden und sich ein Leben aufgebaut, zumindest das, was seiner Erfahrung nach am ehesten daran kam – doch es sollte ihm wohl nicht vergönnt sein. Sie waren wieder umgezogen. Und sein Vater hatte versprochen, es bliebe das letzte Mal. Doch das glaubte er schon seit geraumer Zeit nicht mehr. 
Seufzend zog er seine Kopfhörer aus seinen Ohren und verstaute sie in seinem Rucksack, richtete seinen Pullover, den Harry ihm letztes Weihnachten geschenkt hatte und ging auf die Vordertür zu, durch die gerade Unmengen Schüler drangen, wo es doch jede Sekunde schellte, und mit einem Auge auf seinem Stundenplan mit Wegbeschreibungen und dem anderen auf dem Gang vor sich, fand er sich nach ein paar Irrwegen in dem Naturwissenschaftstrakt des Komplexes wieder und stellte erschrocken fest, dass die Tür zu seinem Raum schon geschlossen war. Nun kam er nicht nur mitten im Schuljahr hinzu, nein, er musste auch mitten in die Stunde platzen. Noch einmal riskierte er einen Blick auf sich durch die reflektierenden Fenster, versuchte seinen abgekämpften und müden Gesichtsausdruck zu einer entspannten Miene werden zu lassen, lächelte sich selbst einmal unsicher zu, ehe er nach einem kurzen Zögern klopfte. 
Ein „Herein“, ertönte simultan zu dem Klacken der Tür, als er diese öffnete. Er spürte, wie alle Augenpaare auf ihn gerichtet waren und vermied es akribisch, in die Klasse zu sehen, sah daher in das Gesicht des älteren, streng aber freundlich aussehenden Mannes, der am Pult stand und ihn mit einer Liste in der Hand taxierte.
„Entschuldigung, ich hab den Raum nicht gefunden.“, entschuldigte er sich klar vernehmlich, wollte möglichst selbstbewusst auftreten. 
„Sie müssen also John Watson sein. Kein Problem, ich habe ohnehin noch nicht angefangen. Nehmen Sie Platz. In der zweiten Reihe ist noch etwas frei, neben Sherlock.“, beschwichtigte er ihn und wies auf den benannten Platz.
„Danke.“, nickte er nur und sah zum ersten Mal in die Menge, versuchte allen Blicken aus dem Weg zu gehen und ging auf den einzig freien Platz zu, an einem Tisch, der etwas abseits von all den anderen zu stehen schien. 
Neugierig betrachtete er den blassen Jung mit dem seltsamen Namen, den er schon wieder vergessen hatte, der deutlich jünger als alle anderen hier wirkte, vielleicht 16, mit unordentlichen dunklen Locken und viel zu gut angezogen für die Schule. Doch was ihm am aller meisten auffiel war sein Blick, der ihn nur ganz kurz streifte, der aber so vor Gleichgültigkeit und Kälte erfüllt war, dass John sofort den unsinnigen Gedanken hatte, etwas falsch gemacht zu haben, nur dadurch, dass er in diesem Biokurs war, in diese Klasse gekommen war und sich neben ihn setzen musste, weil kein anderer Platz mehr frei war. 
„Hallo.“, sagte John in reflexartig höflicher Manier, als er seine Tasche von seiner Schulter gleiten ließ und Schreibutensilien herauskramte. 
Der Junge sagte nichts, richtete nur ein weiteres Mal seinen Blick auf ihn, immer noch mit diesem kalten Blick, ehe er sich so abwandte, dass seine Körperhaltung nicht abweisender hätte sein können und stirnrunzelnd ließ sich John nun auf seinen Stuhl sinken, riskierte einen weiteren kurzen Seitenblick auf seinen Sitznachbarn, der unbeachtet blieb. 
Er war gerade über irgendwelche Aufzeichnungen gebeugt. John erkannte die Zeichnung eines translatierten mRNA-Stranges, die mit vielen feinen Pfeilen besehen war, doch schon im nächsten Moment wurde seine Sicht geblockt. 
Die Stunde ging schnell um, obwohl er das Thema schon besprochen hatte auf seiner alten Schule und ihm wirklich langweilig war. Er hatte alles gewusst aber sich noch nicht einmal gemeldet, erst wollte er abwarten und schauen, wie die Menschen in seinen Kursen waren und was man erwartete. 
Die Blicke, als der Junge – der, wie es ihm wieder eingefallen war, Sherlock hieß – gerüffelt wurde, weil er sich voll und ganz auf seine Aufzeichnungen konzentrierte, anstatt der Stunde zu folgen, dennoch eine mehr als richtige und viel zu ausführliche und weitreichende Antwort geben konnte, hatten für sich gesprochen.
Seine Stimme war arrogant und erstaunlich tief gewesen und seine Äußerung wurde quittiert mit leisem Gelächter und Raunen, doch John musste zugeben, dass er schon beeindruckt war und dass die hämische Reaktion seiner Mitschüler vollkommen überflüssig war. Er machte nicht den sympathischsten Eindruck und schien nicht gerade beliebt zu sein, aber das Verhalten erschien ihm trotzdem als ungerecht und falsch. 
Er war der einzige, der nicht lachte, sondern Sherlock nur leise zuflüsterte: „Das war gut.“
Die kühlen sturmgrauen Augen ruhten durchdringend auf ihm und er meinte eine Regung erkennen zu können, die wie Überraschung und Unsicherheit aussah, doch er kannte ihn nicht annähernd und eigentlich sollte ihn das nicht interessieren. Doch er bekam keine Antwort, da es just in diesem Moment klingelte und er aufstand und sofort den Raum verließ.
John sah ihm nicht nach sondern packte seine Sachen zusammen, als eine harsche Mädchenstimme an sein Ohr drang. 
„Du bist also der Neue?“
„John Watson.“, antwortete er etwas trotzig, nickte aber. 
„Ich bin Sally. Was hast du als nächstes?“
Er sah kurz auf seinen Stundenplan. „Physik.“
„Ich hab Deutsch, liegt also auf meinem Weg. Ich kann dir den Raum zeigen.“
„Das wäre nett, danke.“, murmelte er erleichtert, als ihm auffielt, dass seine Wegbeschreibungen alle als Ausgangspunkt die Eingangstüre hatten und er schon gar nicht mehr wusste, wo diese war. 
„Als Neuer hast du wohl das Privileg, neben dem Freak zu sitzen.“, sagte das Mädchen unerwartet und er sah sie schräg von der Seite an. Sie war nicht hässlich mit ihren großen dunklen Locken und ihrer braunen Haut, doch ihr Blick war spöttisch und hätte sie kaum hässlicher machen können. 
„Was ist mit ihm?“, fragte er neugierig. Er machte ihn neugierig. Etwas war an ihm, das ihn nicht losließ. 
„Er ist seltsam. Hat zwei Jahrgänge übersprungen, redet mit kaum jemandem, wenn es nicht sein muss. Keiner weiß was über ihn, außer, dass er ein verfluchter Streber ist. Andauernd mit irgendwelchen Aufzeichnungen über irgendwelche Experimente beschäftigt, hast du ja wohl selbst gesehen. Irgendetwas stimmt nicht mit dem.“
„Und, hat er irgendwelche Freunde?“, fragte er unsicher und fühlte sich aus irgendwelchen Gründen nicht gut dabei. 
Sally lachte auf. „Freunde? Nicht dass irgendjemand wüsste oder annehmen könnte. Wieso,  interessiert?“ 
Gekünstelt vehement schüttelte er den Kopf, sagte aber nichts und starrte nachdenklich auf den Linoleumboden.
„Da sind wir. Wenn du willst, kannst du in der Mittagspause zu uns kommen, John. Wir sitzen in der Mensa, hinten rechts.“, sagte sie freundlich und verabschiedete sich, um von einem in übergroßer und seiner Empfindung nach alberner Lederjacke gekleideten Jungen mit einem Kuss in Empfang genommen zu werden.
Er hatte kein gutes Gefühl bei ihr und wusste jetzt schon, er würde keine weiteren Anstalten machen, sich ihnen in irgendeiner Weise anzunähern. 
Ohne einen weiteren Gedanken an sie zu verschwenden trat er ein und hoffte trotz alledem, einen Platz neben jemandem zu ergattern, der nicht Sherlock hieß.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Dec 21, 2014 ⏰

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