Es hängt eine Uhr im Zimmer.

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Und sie tickt.
Sie tickt schon seit recht langer Zeit, denn man hat in den letzten acht Jahren niemals vergessen, sie aufzuziehen. Sie tickt und tickt, und begonnen hat sie mit dem Ticken zu einer Zeit, zu der man sich Uhren, die man nicht aufziehen musste, nicht in den wildesten Träumen vorgestellt hätte. Allerdings ist die Uhr verstellt, denn obwohl sie tickt, und auch die Zeiger standhaft Stunde um Stunde, Tag um Tag ihre Runden drehen, ist sie mittlerweile abgenutzt. Die Zahnräder greifen nicht mehr, wie sie es früher getan haben, und die Feder ist nicht so stark, wie sie es einst war.
Die alte Frau, in deren Zimmer die Uhr hängt - und tickt - hat nicht genug Geld, um die Uhr reparieren zu lassen, und außerdem ist sie sehr stolz darauf, dass die Uhr nun acht Jahre lang läuft, ohne jede Pause. Und wenn man die Uhr reparieren lassen würde, dann müsste sie ja in ihrem Rundlauf innehalten!
Also hat sich die alte Frau eine neue Uhr besorgt, denn die neuen Uhren sind billiger und man muss sie nicht einmal aufziehen. Außerdem können sie piepsen, wenn man das möchte, und sie stellen sich von ganz allein. Die alte Frau hat sogar darüber nachgedacht, die Uhr zu ersetzen, sie fortzugeben und fortan die neue Uhr an ihren Platz zu hängen. Doch sie mag das Ticken der alten Uhr, und die neuen Uhren ticken nicht, oder zumindest nur so leise, dass man genau hinhorchen muss, um es zu hören. Deswegen hängt die Uhr immer noch im Zimmer der Frau, und sie gibt sie nicht weg.
Es ist ihr nicht bewusst, aber ohne die Uhr könnte sie nicht zufrieden leben. Das Ticken der Uhr begleitet sie schon so lange, dass es sie in den Schlaf wiegt, und ohne es wäre sie schlaflos. Und das Aufziehen der Uhr, jeden Dienstag, Woche für Woche, gibt ihr einen Anhaltspunkt in dem Leben, in dem sie durch das Fehlen von Arbeit oder Spielen sonst keinen Halt findet.
Die Frau strickt auch gern, aber stricken kann man immer, und sie tut es auch immer, darum kann sie sich daran nicht orientieren. Sie strickt Socken für ihre Enkel, immer zu Weihnachten. Sie sitzt im Schaukelstuhl unter der Uhr und schaukelt und strickt. Sie strickt mit Holznadeln, denn das Klappern der Holznadeln klingt viel schöner als das fade Klicken von Plastiknadeln oder das metallische, dumpfe Aneinanderschlagen von Metallnadeln. Ja, wenn sie strickt, dann klappern die Holznadeln, unaufhaltsam, immer wieder, und die Frau merkt es nicht, aber die Nadeln klappern im Takt des Tickens.
Ab und zu kommen die Enkel der Frau zu Besuch, meist dann, wenn sie krank sind. Die Eltern können sich nicht kümmern, denn sie arbeiten. Dann macht die Frau den Kindern einen Tee, oder eine warme Milch. Hinein rührt sie etwas Honig, denn er beruhigt den Hals und er schmeckt auch gut. Und wenn sie den Honig mit dem Löffel in die Milch oder den Tee rührt, dann schlägt er gegen die Tassenwand, immer wieder, und man merkt es nicht, denn ab und zu dämpft die Flüssigkeit den Ton, und dann wieder ist die Rührbewegung zu schwach, aber der Löffel schlägt mit der Uhr im Gleichklang.
Die Frau setzt sich dann neben ihr großes, weiches Bett, in dem das kranke Enkelkind liegt, und erzählt eine Geschichte. Keine bekannte Geschichte, nein, nicht einmal eine Geschichte, die sie selbst von ihren Eltern erzählt bekommen hat. Sie erzählt auch nicht immer wieder dieselbe Geschichte, denn sie denkt sich gern Geschichten aus, und so erzählt sie ihren Enkeln jedes Mal, wenn sie krank in dem großen Bett liegen, eine neue Geschichte, die sie sich extra für ihre Enkel und nur in dem Moment ausdenkt.
Meist strickt sie dabei, denn das Stricken ist wie eine Meditation, und sie kann ihre Gedanken, wenn sie strickt, ganz und gar auf die Geschichte konzentrieren. Dann erzählt und erzählt sie, und das Enkelkind schläft langsam ein, denn die Frau erzählt beruhigende und schöne Geschichten, keine spannenden oder verunsichernden. Sie erzählt langsam und gemächlich, und zusammen mit dem Ticken der Uhr und dem Klappern der Nadeln ist das sanfte Geschichtenerzählen die beste Einschlafmusik für erkältete Kinder.
Sie hat so viele Ideen, und sie hat schon so viel erzählt, dass sie ihre Geschichten wieder vergisst, wenn sie sie ihren Enkeln vorgetragen hat. Natürlich nicht sofort, sondern erst einige Stunden später. Manchmal stellen ihr die kranken Kinder Fragen zu ihren Geschichten, und sie antwortet gern, denn wenn sie entdeckt, dass in einer ihrer Geschichten eine Frage offen geblieben ist, dann ist sie selbst gespannt, wie es weitergeht.
Diese Geschichten, die die Frau immer erzählt, wenn eines ihrer Enkelkinder krank ist, bleiben den Enkeln in Erinnerung. Die Eltern der Enkel freuen sich, dass die Kleinen die Erzählungen so gern hören, aber sie selbst kennen solche Geschichten nicht. Die Frau hat erst begonnen, Geschichten zu erzählen, als sie alt war, und nur noch strickte und dem Ticken der Uhr lauschte.
Die Frau weiß es nicht, und ihre Kinder und Enkel wissen es nicht, denn noch weiß es niemand: Später, wenn die Enkelkinder erwachsen sind, werden die Kinder sich noch an die Geschichten erinnern und eines wird jene, die am klarsten erhalten geblieben sind, in ein Buch schreiben.
Die Uhr wird immer noch dort hängen, und sie wird auch ticken. Sie geht wieder richtig, denn das Kind hatte genug Geld, sie reparieren zu lassen. Jeden Dienstag zieht es sie auf, denn es erinnert sich, dass seine Oma das immer so gemacht hat, und weil die Uhr ja wieder repariert ist und richtig gehen kann, wird sie am Dienstag auch gestellt.
Ruhig wird das Kind vor seinem Computer sitzen und schreiben, in demselben Zimmer, in dem seine Oma die Geschichten erzählt hat, und die Tastatur wird klappern, wie es damals die Nadeln getan haben, nur, dass sie anstatt einer Socke eine Geschichte stricken.
Und niemand wird es merken, aber wenn das Kind schreibt, dann klappern die Tasten, und sie tun es im Einklang mit dem Ticken der Uhr.

Es hängt eine Uhr im Zimmer.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt