Die Sonnenblumen wiegten sich im Wind, wie ein großes, gelbes Meer, prachtvoll und farbenfroh, voller Leben. Und in dem Blumenmeer pulsierte das Leben, tollte umher. Feldmäuse, Kinder und hier und da ein Vogel, der vom Himmel im Sturzflug auf seine Beute hinab stieß, um sich eine Maus als Imbiss mitzunehmen. So ging es schon den ganzen Vormittag und nun stand die Sonne am Zenit, am höchsten Punkt und schenkte zur Mittagsstunde allen ihre wohlige Wärme. Inmitten dieses malerischen Idylls stand eine einsame Vogelscheuche. Sie hatte schon viele Tage kommen und gehen sehen, etliche Sommer und Winter. Die Tage waren alle gleich. Gleichsam hell, gleichsam warm oder kalt, gleichsam öde. Die Langeweile machte ihr zu schaffen, seit langem schon. Nur nachts, wenn die Felder menschenleer waren und der Wind zwischen den Blumen entlang wehte, da fühlte sie manchmal dieses Prickeln. Stets erklang ein leises Flüstern, als unterhielten sich die Blumen über ihre langweiligen, stets gleichen Tage. Ab und an, wenn der Mond richtig stand und die Felder bar allen Lebens waren, wenn kein Wind wehte und nur der Regen die Luft erfüllte, dann fühle sie es. Und es freute sie. Die Nächte, die unheimlich und düster waren, in denen fühlte sie sich erfüllt, ja geradezu lebendig. Diese Nächte waren es, in denen sie sich fühlte wie eine der Schreckgestalten, von denen die Kinder an warmen Nächten erzählten, wenn sie diese „Gruselgeschichten" zum Besten gaben, die waren ihr die liebsten. Und sie genoss sie, aus tiefster Seele. Sie wärmten ihr kleines Strohherz und manchmal stahl sich ein kleines Lächeln auf ihren aufgenähten Mund. Sie war eine Vogelscheuche die ihre Bestimmung, den Grund ihrer Existenz noch kannte. Zu scheuchen, Angst zu verbreiten, das war ihr Lebenswerk. Manchmal, wenn sich in einer dieser regnerischen Nächte ein paar Kinder aufs Feld verirrten, machte sie sich einen Spaß daraus sie zu erschrecken. Dann krächzte sie leise, flüsterte vor sich hin und erfreute sich daran, wenn die Kinder aufschrien und hektisch umher liefen. Eines Nachts, als sich ein Kind allein im Feld verlaufen hatte, kam es an ihr vorbei. Ein verschmitztes Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht, ein diebisches Grinsen. Doch als sie sah, wie die Tränen über die Wangen des Kindes liefen, regte sich etwas in ihr. Etwas dass sie bisher nicht gekannt hatte. Mitleid. Ohne genau zu wissen wieso, kam ihr die Idee, dem Kind den Weg aus dem Feld zu weisen. Von hier oben, wo sie hing, konnte sie schließlich alles prächtig überblicken. Sie flüsterte, versuchte nicht zu böse zu klingen, doch scheinbar gelang es ihr nicht, denn das Kind erschrak und weinte noch mehr. Das ärgerte die Vogelscheuche, sie wollte doch nur helfen. Sie versuchte es erneut, wieder und wieder und irgendwann, nach etlichen Augenblicken verstand das Kind was sie ihm sagen wollte. Und es blickte durch die Tränen hinauf zu ihr. Ein Lächeln stahl sich auf das Gesicht der Vogelscheuche und spannte die Nähte. Kein freches, kein böses Lächeln, sondern eines voller Wärme. Und sie hob einen Arm und wies in die Richtung des nächsten Ufers dieses Blumenmeers. Das Kind weinte erneut und erst wollte sie sich wieder ärgern. Was bildete dieser kleine Mensch sich ein? Sie mühte sich ab ihren steifen Arm zu heben um ihm die Richtung zu weisen und dieses Balg weinte einfach weiter! Doch dann verstand sie es langsam. Es waren Tränen der Freude. Freude, den Weg nach draußen gefunden zu haben. Freude, doch nicht ganz so allein zu sein. Und dann lächelte der kleine Mensch. Auf dem verweinten Gesicht strahlte ein Lächeln voller Zuversicht und es wärmte das durchnässte Strohherz der einsamen Vogelscheuche. Dann ging das Kind und sie war wieder allein. Die Nacht verging und der Tag verging und die Vogelscheuche fühlte sich einsamer als je zuvor. Doch als die Nacht hereingebrochen war und sie wieder gelangweilt dem Tuscheln der Sonnenblumen lauschte, raschelte es plötzlich neben ihr. Und da, wie aus dem nichts, stand der kleine Mensch und lächelte sie an. Und von da an kam der kleine Mensch jede Nacht zu ihr, sie saßen beieinander. Zumindest saß er, denn sie hing wie immer an ihrem Platz. Und sie erzählten sich Geschichten und genossen jeden Augenblick. Und beide wussten, dies würde eine ganz besondere Freundschaft werden.
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Kurzgeschichten
Short StoryEine kleine Sammlung von Kurzgeschichten die im Laufe der Zeit entstanden sind