Kapitel 19 - Du hast mich schon einmal gefunden

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Ben und ich verließen gemeinsam das Lokal, wobei ich extra ein bisschen weiter von Ben wegging, als nötig. Ich hatte genau bemerkt, dass die Kellnerin uns beobachtete. Am liebsten hätte ich gefragt, ob sie vielleicht noch seine Handynummer haben wollte. Wenn ich Spanisch sprechen könnte, hätte ich es wahrscheinlich sogar wirklich getan.

Ein Glück, dass das Schicksal heute auf Bens Seite stand.

»Da lang?«, riss mich Bens Stimme aus den Gedanken.

»Hm?«, machte ich und sah auf. Wir befanden uns in einer kleineren Seitengasse, nur ein paar Ecken vom Restaurant entfernt, doch es fühlte sich an, als wären wir in einer anderen Stadt.

Die Dunkelheit umhüllte unsere blassen Gestalten und zog mich in ihren kraftvollen Bann. Etwas huschte an mir vorbei, streifte mich mit seinem buschigen Fell, und verschwand hinter einem der Müllsäcke, die auf der Seite der unbefestigten Straße standen.

»Igitt«, kiekste ich und sprang einen riesigen Schritt zur Seite. Leider genau zu der Seite, an der Ben ging, schließlich wäre ich sonst direkt zu dem buschigen Felltier gesprungen. Ben blieb überrascht stehen, sodass ich gegen ihn stolperte.

»Was denn?«, fragte er leise. Er passte seine Stimme der Dunkelheit und der Stille an — vielleicht bewusst, vielleicht aber auch intuitiv.

Vielleicht hatte ich Ben unterschätzt, denn von Anfang an war er mehr gewesen, als nur zwei Ordner zu je 300 Seiten. Seine raue Stimme war das Butterfass, um das die Schmetterlinge in meinem Magen flogen. Ich war aufgeregt, von den Haarwurzeln über die Fingerspitzen bis in die Zehen. Aber wieso?

»Da ... da war irgendwas! Etwas ... etwas Haariges! Irgendwas ...« Ich war von meiner panischen Reaktion so außer Atem, dass ich kaum einen ganzen Satz zusammenbrachte.

»Aha«, sagte Ben wenig taktvoll. Ich verschränkte die Arme.

»Vielen Dank für deine Anteilnahme«, murmelte ich bockig und ging einfach weiter. Dass ich ihm ganz schön die kalte Schulter zukehrte, fiel mir zwar auf, aber Ben schien ohnehin nicht viel Interesse an mir zu haben. Was sollte es also?

»Was erwartest du denn? Dass ich dich Huckepack nehme und durch die Altstadt weitertrage?«, lachte Ben. »Eventuell noch einen Leichensack auftreibe, damit du überhaupt nichts mehr sehen oder fühlen musst?«

Ich sagte nichts. Naja, irgendwie wäre das natürlich nett gewesen. Also, das mit dem Tragen. Auf den Leichensack verzichtete ich gut und gerne.

Allerdings war mein eigener Stolz viel zu groß, um in einem einzigen Happen heruntergeschluckt zu werden. Ich war schließlich eine emanzipierte, junge Frau, die über zwei funktionsfähige Beine verfügte. Solange ich es noch konnte und meine Knie- und Hüftgelenke es zuließen, würde ich gehen. Und selbst wenn ich es nicht mehr konnte, würde ich im Altersheim mit meinen Kolleginnen auf dem Rolltor Wettrennen über die Treppen veranstalten und über junge Zivildiener diskutieren und ihre Popos mit Pfirsichen vergleichen.

Das würde ich mit Delia machen.

Auf einmal überkam mich ein seltsames Gefühl — Heimweh. Ich konnte es nicht besser beschreiben, es gab keinen trefflicheren Ausdruck. Ich war selten so weit von daheim weg gewesen. Daheim — nicht die Abwesenheit meiner Eltern, sondern die von Delia schmerzte. Blödes Stechen in meiner Brust.

Doch bevor ich irgendeinen weiteren, trüben Gedanken an mein Leben in Wien verschwenden konnte, machte Ben seinen Schachzug. Er nutzte den Überraschungseffekt aus, denn er näherte sich so rasch, dass ich gar nicht richtig reagieren wollte. Ehe ich mich versah, packte er mich an den Knien und an der Hüfte und warf mich wie einen nassen Kartoffelsack über seine knochige Schulter.

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