Abi-Streich.Eine Weile hatte ich zugesehen, dann war ich gegangen, um nachzusehen, wo Martha geblieben war, denn ich hatte gleich am Anfang bemerkt, dass sie fehlte, und hatte mir schon gedacht, dass sie in der Ecke saß, wo wir alle immer in der Pause beisammen saßen.
Tat sie auch. Sie las ein Buch.
Unterwegs hatte sich Kiki, eine verrückte Nudel aus der Parallelklasse an meine Fersen geheftet. Sich einfach wortlos zu Martha zu setzen fühlte sich fast an wie ein Verbrechen, denn sie erweckte stets den Eindruck, als sei es eine Ehre, wenn sie jemanden in ihrer Nähe zu tolerierte ohne angepisst zu sein.
Kiki quasselte wie üblich von allem Möglichen und mich plagte das schlechte Gewissen, dass ich sie mit her gebracht hatte und wir uns einfach ohne zu fragen hierher gesetzt hatten. Ich hatte aber auch ein schlechtes Gewissen Kiki gegenüber, weil ich ihr gar nicht zuhörte und total in Gedanken versunken war.
Die erste kurze Pause von Kikis Gequassel nutzte ich, um mich zu erkundigen:
„Martha, stören wir dich?"
„Nein, nein."
Es klang ehrlich und obwohl ich mir nicht vorstellen konnte, dass es jemanden gab, dem Kikis Gequassel nicht früher oder später auf die Nerven ging - am allerwenigsten Martha - sagte ich nichts weiter, weil ich nicht wusste was, und weil mir außerdem immer noch Unmengen an Gedanken durch den Kopf gingen. Martha würde wohl kaum sagen: "Verpisst euch!". Andererseits war sie nicht auf den Mund gefallen. Was war das für ein merkwürdiges Gefühl in meiner Magengegend...?
Jedes Mal, wenn ich zu ihr hinüber sah, kribbelte es in meinem Bauch. Rasch drehte ich den Kopf weg und starrte auf den Boden oder auf irgendetwas anderes in meinem Blickfeld. Ich spürte meine Fingernägel sich in den Stoff meiner Jeans krallen.Fanni heute Morgen vor dem Klassenzimmer:
„Elaia, ich hab von dir geträumt! Ich weiß nicht mehr was, aber du kamst drin vor."
Wie süß, dass sie mir das einfach so gesagt hatte.
In Bio haben wir Vierergruppen gebildet und ich freute mich sehr darüber, zusammen mit Luna, Martha und Vanja in eine Gruppe gesteckt worden zu sein.
Nach dem Unterricht machte ich unterwegs zum Bahnhof noch einen Abstecher zur Drogerie. An der Kasse sah ich Vanja und Martha, die mich auch schon entdeckt hatten und mir zuwinkten. Ich betrachtete Martha aus dem Augenwinkel und erschrak, als mir plötzlich auffiel, dass ich ungewöhnlich viel über sie nachdachte.
Ich konnte förmlich fühlen, wie ich rot anlief.Witziger Zufall übrigens, dass Martha mich beim Wichteln gezogen hatte im Dezember. Sie hatte mir einen kleinen Kalender mit lustigen Tierbildern geschenkt. Luna hatte mir später erzählt, dass Martha sie um Rat gefragt habe, was ich denn so mochte.
Gestern hatte Martha erwähnt, dass sie sich mit dem Tod beschäftigte.
Vielleicht geht es ihr ja genauso scheiße wie mir...? Ich weiß nicht, ob ich mir das nur einbilde, aber... mag Martha mich irgendwie?
Ich würde es nie wagen, so etwas zu behaupten, aber seit der Party hatte ich den Eindruck, dass sie sich mir gegenüber anders verhielt als sonst. Normalerweise machte sie ja alles mit Vanja zusammen und ich mit Luna, aber in letzter Zeit fiel unsere Partnerwahl immer häufiger auf uns beide.Im Schwimmunterricht haben wir Rettungsschwimmen geübt. Die Tatsache, dass Martha ebenso distanziert war wie ich, beruhigte mich kaum, als ich sie mit der flachen Hand am Rücken durch das Wasser schob und sich Martha für die zweite Übung an meinen Schultern festhielt. Da war wieder dieses Kribbeln, wie elektrischer Strom - diesmal spürte ich es an den Stellen, an denen Martha meine Haut berührte.
"Ich mache mir Sorgen, weil Martha raucht", teilte ich Luna einige Tage später mit.
"Jaa, verstehe ich", entgegnete Luna, "aber es ist ihre Entscheidung."
In Bio sezierte Martha das Schweineauge, während ich Notizen machte. Wir waren beide froh über diese Aufgabenteilung.
In Sport spielten wir Badminton. Als wir uns einen Spielpartner suchen sollten, sah Martha mich auffordernd an und ich lächelte zustimmend.
Sie war zwar nie so das "typische" Mädchen gewesen, aber der Gedanke, dass Martha trans war, kam mir bei weitem nicht. Ich wusste zu diesem Zeitpunkt auch gar nichts dadüber oder über LGBTQ+ allgemein.
Martha war auch nicht die Einzige.
Als Luna und ich eines Nachmittags zusammen shoppen gingen, lief sie geradewegs in die Männerabteilung. Nach anfänglichem Zögern folgte ich ihr.
Einige Monate später vertraute sie mir dann an, dass sie sich in ihrem Körper unwohl fühle und von nun an "Luca" genannt werden wolle. Ich hatte absolut kein Problem damit und gewöhnte mich schnell daran.
Zu Hause gab es jeden Tag Krach. Ich konnte mich nicht mehr auf die Hausaufgaben konzentrieren, wurde immer öfter krank und es ging mir insgesamt zunehmend schlechter. Meine Mutter schickte mich zu dutzenden "Heilern". Zur Psychotherapie ging ich auch schon seit einer Weile, doch tatsächlich zu helfen schien nichts von alldem - klar, da sie selbst das Hauptproblem darstellte und die Psychotherapeutin eine Bekannte von ihr war, die mit spirituellen Praktiken arbeitete.
Schließlich, in tiefer Depression, beschloss ich, noch vor den ersten Herbstferien in der Oberstufe die Schule abzubrechen. Einen mittleren Schulabschluss hatte ich ja mit dem Bestehen der zehnten Klasse bereits erreicht und das Latinum hatte ich auch in der Tasche (selbst wenn mir das nicht viel bringen würde). Ich wusste sowieso nicht, wozu ich das Abi brauchen sollte.
"Ihr wart der Grund, aus dem ich bleiben wollte", gestand ich den Mädels aus meiner Klasse ein paar Tage vor meinem Abgang. Trotz meiner hoffnungsvollen Erleichterung auf ein besseres Leben (das nicht kam - eher im Gegenteil) fühlte ich mich traurig, denn ich würde die anderen vermissen. Wir hatten viel zusammen durchgemacht - vielleicht nicht ganz so viel wie ohne meine soziale Distanzierung möglich gewesen wäre, aber dennoch sind mir einige Erlebnisse im Gedächtnis geblieben. Vor allem die Wandlung, die stattgefunden hatte vom anfänglichen leichten Mobbing bis hin zur harmonischsten Klassengemeinschaft, die ich mir vorstellen konnte - zumindest unter den "Mädchen".
"Und was wirst du jetzt machen?", fragten sie neugierig, als wir in T-Shirt und Trainingshose teils auf der Bank und teilweise auch auf dem Boden in der Sporthalle saßen.
"Ein Fotografiepraktikum", sagte ich, um nicht auszuplappern, dass ich absolut keinen Plan hatte und einfach nur meine Ruhe haben wollte.
"Das ist schön", kommentierte meine Kunstlehrerin, "du solltest unbedingt was Kreatives machen."
Kunst war mein mit Abstand leistungsstärkstes Fach gewesen. Umso bedauerlicher war es, dass ich mittlerweile kaum noch zeichne.
"Schade", bedauerte eine andere Lehrkraft. "Ich denke, Sie haben sehr gute Chancen, das Abitur zu schaffen."
Mir war das damals so was von egal. Ich fühlte mich, als wollte ich am liebsten sterben und einfach nur weit, weit weg von allem.An meinem letzten Schultag hatten wir Bio. Ich wurde ausgefragt und konnte kaum etwas zur Genetik sagen, aber das war nicht allzu schlimm, da ich ja ab Montag sowieso nicht mehr zu kommen brauchte und mir die Noten nichts mehr antun konnten. Der arme Herr Singer hatte eine Note umsonst gemacht, aber dafür wurde jemand anders verschont.
"Du bist so sozial", lobte mich Vanja.
Mit einem bitteren Lachen entgegnete ich: "Da sagt meine Mutter aber was anderes."Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie und ob ich mich überhaupt richtig verabschiedet habe, nur daran, mich noch einmal im Biologieraum und im Schulgebäude umgeschaut zu haben und es nicht habe fassen können, dass ich ab jetzt nie wieder hierher zu kommen brauchte.
Wenn ich jetzt zurückblicke, bedaure ich, mich nach der vierten Klasse für eine Mädchenschule entschieden zu haben. Die andere Schule hatte ich mir ja auch angeschaut und sie gar nicht schlecht gefunden. Wäre ich direkt dorthin gegangen, hätte ich mehr Zeit mit Luca, Martha und den anderen gehabt...
Im Nachhinein ist man immer schlauer. "Man kann das Leben nur rückwärts verstehen; leben muss man es vorwärts." (Søren Kierkegaard, dänischer Philosoph)