Kapitel 5

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Am nächsten Tag schmiedete ich eifrig Pläne, wie ich das Vertrauen des Jungens gewinnen konnte. Die Möglichkeit, dass er nicht nochmal zurückkommen würde, ließ ich bewusst außer Acht. Der kurze Kontakt mit diesem verwahrlosten, kleinen Jungen hatte es geschafft, mich wachzurütteln. Auch wenn meine Entführer mich eisern gegen jeglichen Kontakt abschirmten, durfte ich nicht die Hoffnung aufgeben. Am Ende ging meine Fantasie sogar soweit mit mir durch, dass ich mir ausmalte, wie ich mit dem Jungen fliehen würde. Das Frühstück ging diesmal deutlich leichter herunter und bereitwillig folgte ich dem bewaffneten Mann vor mir zu Kamal. Ich kannte sonst, außer Baschar, niemanden mit Namen und es fiel mir auch schwer, die Männer alle auseinanderzuhalten. Wie auch die Male zuvor, ließ ich meinen Blick wachsam über den Innenhof schweifen, als wir ihn überquerten, doch das Tor war geschlossen und es war auch niemand zu sehen.

Als wir das Krankenzimmer betraten, fand ich Kamal erstaunlicherweise bei einem wackeligen Gehversuch vor. Er hatte sich auf die Schultern des Jungen gestützt, der mir schon bei der Verarztung half. Das linke Bein war scheinbar noch nicht belastbar und er humpelte gerade mit schmerzverzerrtem Gesicht zurück zur Liege. Als er endlich wieder lag, ging ich auf ihn zu und deutete stumm auf sein Bein. Ich konnte sehen, dass durch die Gehversuche eine der Wunden wieder leicht aufgerissen war und das Weiß des Verbandes färbte. Als ich es mir näher anschaute, stellte ich jedoch erleichtert fest, dass es sich nur um einen oberflächlichen Riss handelte. Ich desinfizierte es vorsichtshalber noch mit dem Alkohol und verband die Wunde dann neu. Ich spürte, dass der Junge immer noch neben mir stand und mich fasziniert dabei beobachtete, wie meine Hände geschickt den Verband anlegten. Ich schaute für den Bruchteil einer Sekunde zu ihm und sah den Anflug eines Lächelns auf seinen Lippen. Doch es verschwand so schnell wieder, dass es vielleicht auch nur eine Einbildung war. Die beiden begannen eine Unterhaltung auf arabisch und ich versuchte angestrengt wenigstens einzelne Wörter zu verstehen. Es ging scheinbar um einen Cousin oder vielleicht benutzten sie es auch als gegenseitige Anrede, sicher war ich mir da nicht. Es würde mich nicht wundern, wenn die beiden verwandt wären. Ich wusste, dass es in Syrien einen sehr viel stärkeren Familienzusammenhalt gab, als ich das aus Deutschland kannte. Natürlich besuchte auch ich gerne meine Cousinen und genoß die Zeit bei meinen Großeltern, aber in der syrischen Kultur wohnte man meistens mit mehreren Generationen im selben Haus zusammen und kümmerte sich viel intensiver umeinander. Als ich den Verband beendet hatte, stand ich auf und verstaute das restliche Zeug wieder in der Kiste.
Letztendlich stellte ich mich unsicher neben die Liege und zeigte mit meinem Zeigefinger abwechselnd auf die beiden. "Familie?", fragte ich auf arabisch und hoffte auf diese Weise vielleicht mehr zu erfahren.
Der Junge nickte eifrig und zeigte dann auf sich. "Ich bin Hakim und das ist mein Cousin.", antwortete er auf Arabisch und gab sich sichtlich Mühe langsam und deutlich zu sprechen.
„Du hast ihm das Leben gerettet.", fügte er nun auf englisch hinzu und ich brauchte ein paar Sekunden, um die Sprache zu wechseln.
„Gerne.", antwortete ich leise und konnte mich nicht zu einem Lächeln durchringen. Dass ich keine Wahl gehabt hatte, wusste er entweder nicht oder er ignorierte es einfach.
Doch ich tippte auf ersteres, denn auf einmal griff er einfach meine Hand, hielt sie mit beiden Händen umschlossen und verbeugte sich vor mir. Es war eindeutig ein Zeichen des Dankes und trotzdem hätte ich am liebsten meine Hand entzogen. Ich wagte es jedoch nicht und blieb wie angewurzelt stehen. Da er keine Anstalten machte sich wieder aufzurichten, berührte ich kurz seine Schulter und wiederholte die Halbwahrheit, dass ich gerne half. Das Lächeln, das er mir darauf schenkte, war das Freundlichste, was ich in den letzten Tagen erfahren hatte. Bevor ich allerdings die Chance auf eine Erwiderung hatte, spürte ich einen harten Schlag zwischen die Schulterblätter. Ich taumelte einen Schritt nach vorne und stützte mich mit einer Hand an der Liege ab. Ein dumpfer Schmerz wanderte meine Wirbelsäule entlang und ließ mich aufkeuchen. Der Mann mit dem erhobenen Gewehr in der Hand stand drohend hinter mir und machte der Situation ein schnelles Ende. Ich hörte den Jungen noch was auf arabisch rufen, doch da wurde ich auch schon zurück in meine Zelle geschleift. Es war anscheinend nicht gerne gesehen, wenn ich mich mit jemandem unterhielt.

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