Er hatte es fast geschafft. Schon lange war Michael nicht mehr so nah dran gewesen wie jetzt. Mit einem Straight auf der Hand standen die Chancen gut, dass er dieses Mal gewinnen würde, auch wenn sein eigener Stapel Pokerchips noch eine weitere Einsatzerhöhung nicht überleben würde. Gegenüber von Michael saß sein guter Freund Frank Byrne, ein untersetzter, sehr gerissener Mann Ende dreißig der ihm mit seinem leichten Grinsen direkt in die Augen starrte. Michael ging davon aus, dass die enorme Selbstsicherheit die Frank ausstrahlte nur Teil seines Bluffs war. Er beschloss es zu riskieren und erklärte: "All in."
Falls Frank von seinem Zug in irgendeiner Form überrascht war, ließ er es sich nicht anmerken. Ohne etwas zu sagen ging er mit. Michael lehnte sich in seinem Stuhl nach vorne und flüsterte: „Das war's mein Freund. Straight.". Er breitete seine fünf Karten vor sich auf dem Tisch aus. Eine hübsche Straße von fünf bis neun. Bisher war das die beste Hand die Michael in den letzten fünf Runden Texas Hold'em zustande gebracht hatte.
Dass Franks Reaktion auf dieses Blatt schallendes Gelächter sein würde, hatten weder Michael selbst, noch die anderen um ihn herum erwartet.
„Wie heißt es so schon mein Lieber,", kam es daraufhin von Frank, „Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben. Full House.". Die drei Neuner und zwei Buben die Frank daraufhin ebenfalls auf den Tisch legte, starrten die beiden ausdruckslos vom Tisch aus an. Michaels Lächeln, das zuvor ohnehin ziemlich ins Stocken geraten war, zerbrach endgültig. Evelynn zog am anderen Ende des Tisches scharf die Luft ein. "Tja, mehr geht heute wohl nicht." An Michael gewandt fuhr sie fort: „Tut mir leid Captain, das war's für heute."
Mit einem genervten Stöhnen lehnte dieser sich in seinem Stuhl zurück und starrte an die Decke. Er war froh als Evelynn die Karten vor ihm wegräumte. Sie mischte sie unter den Rest des Stapels und verstaute diesen dann sicher in seinem Case.
Links neben ihm griff Frank nach Michaels letzten verbliebenen Chips und fügte sie seinem stetig wachsenden Haufen hinzu. Sein lautes Gelächter von eben war beinahe verstummt. Jetzt kicherte er nur noch leise vor sich hin. Er war derjenige gewesen, der Michael als Erster dazu überredet hatte sich das Pokerspielen beibringen zu lassen. Und auch wenn Michael es noch nicht sehr lange beherrschte, war es doch lange genug um zumindest eine kleine Chance gegen Frank und die Anderen zu haben. Doch trotzdem hatte er seit mehreren Tagen kein einziges Spiel mehr gewonnen. Und die Male bei denen es einigermaßen knapp gewesen war, konnte er an einer Hand abzählen. Doch auch wenn Momente wie diese Michaels Spaß am Spiel einen Dämpfer verpassten genoss er doch jeden Moment den er mit seinen Freunden am Pokertisch verbringen konnte. Michaels Verdrossenheit schien Frank zu amüsieren, denn dieser grinste wie ein kleines Kind.
Mehr zu sich selbst als zu den Anderen sagte er: "Tja ich hab's ja gesagt, er gewinnt kein einziges Spiel.". An den Mann rechts neben Michael gewandt, fuhr Frank fort: "Und nun Mister McGuillan, wenn ich bitten darf... Ich glaube Sie schulden mir etwas.".
Sehr zu Michaels Überraschung erhob sich rechts neben ihm seufzend der hünenhafte dunkelhäutige Mann namens Kareem McGuillan. Das wehleidiges Ächzen seines Stuhls war für kurze Zeit das einzige was über Rascheln der Karten zu hören war. Kareem schlurfte einmal durch den Raum zu seinem mit Postern von Fernsehserien bepflasterten Kleiderschrank. Aus diesem zauberte er eine Flasche nobel aussehenden Rotwein hervor und hielt sie Frank widerwillig entgegen. Dieser ergriff die Flasche gierig und fügte hinzu: „Ach wie nett von dir, das wäre wirklich nicht nötig gewesen." Mit zusammengezogenen Augenbrauen erwiderte Kareem: „Glaubst du, nur weil du höflich bist macht mich das weniger sauer auf dich? Weißt du überhaupt was ich für dieses Ding bezahlt habe?"
„Natürlich weiß ich das, sonst hätte ich es ja nicht als dein Wetteinsatz vorgeschlagen. Es ist nicht mein Problem, dass du auf die falsche Seite gesetzt hast."
Kareem hob nur eine Augenbraue und setzte sich, ohne etwas darauf zu erwidern, wieder rechts neben Michael an den Tisch. Sie hatten also gewettet. Wenn er Frank nicht so gut kennen würde hätte er ihm das nachgetragen. Michael besann sich aber eines besseren und überlegte kurz ob er fragen sollte was Franks Einsatz gewesen war. Wenn er es sich aber recht überlegte war sein Konversationseifer ziemlich abgekühlt. Er begnügte sich schließlich damit seinen Blick durch den Rauf schweifen zu lassen.
So wie Kareem neben ihm schmollend und mit den Armen verschränkt dasaß, erinnerte er Michael an seine kleine Cousine wenn sie Abends nicht länger aufbleiben durfte. Der einzige Unterschied war wohl, dass Michaels Cousine kein ein Meter neunzig großer, und einhundert Kilo schwerer Mann war. Ließ man diese Einzelheiten außer acht war die Ähnlichkeit jedoch verblüffend.
Währenddessen räumte Michael gegenüber Evelynn einige teilweise leeren Gläser und Schüsseln mit Snacks vom Tisch und schüttelte missbilligend den Kopf. Michael folgte ihrem Blick zu der Weinflasche die wie eine Trophäe in der Mitte des Tisches stand. Nach einer kleinen Pause in der niemand etwas sagte beschloss Evelynn die Stille mit einer ihrer Predigten zu zerbrechen: "Von Ihnen hat wirklich keiner auf der Universität aufgepasst. Alkoholische Getränke sind auf dem Schiff nur zu besonderen Anlässen und auf Erlaubnis des Captains erlaubt. Und Sir, ich glaube wohl kaum, dass Sie es gutheißen würden wenn-"
Frank ließ sich tiefer in seinen Stuhl sinken, schob seine Brille zurecht und unterbrach sie mit einem lauten Seufzer und den Worten: "Unser wandelndes Regelbuch. Was würden wir nur ohne dich tun?"
Michael rieb sich angestrengt die Augen. "Evelynn, ich hab dir schon oft gesagt du sollst mich Michael nennen wenn wir gerade nicht bei der Arbeit sind. Wie lange sind wir jetzt schon zusammen unterwegs? Ein Jahr und fünf Monate? Vielleicht sechs? Ich hätte gedacht das wäre genug Zeit um sich so etwas zu merken." An Frank und Kareem gewandt fuhr er fort, "Und was ihr beide mit dem Wein macht ist mir egal solange keiner von euch wieder besoffen auf seiner Station erscheint."
Alle wussten, dass das mehr an Frank gerichtet war als an Kareem. Frank schien das genauso gut zu wissen und griff sich mit gespieltem Entsetzen an die Brust.
"Aber mein lieber Michael, habe ich dich denn jemals auf diese niederträchtige Weise enttäuscht?"
Dieser hob nur wortlos eine Augenbraue und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Rechts hüstelte Kareem etwas, dass ich verdächtig wie "Nesselschnaps" anhörte. Michael musste ein Grinsen unterdrücken als er nach diesem Kommentar an vorletztes Weihnachten dachte.
Evelynn war unterdessen ein zweites Mal in die Küche gelaufen um die restlichen Gläser wegzubringen. An ihrer Körperhaltung konnte Michael erkennen, dass sie noch immer etwas aufgebracht war. Ob wegen des Weins, Franks Kommentar daraufhin oder beidem wusste er nicht. Es war aber klar, dass sich ihr Gemüt innerhalb der nächsten paar Minuten wieder abkühlen würde. Ohne sich umzudrehen fragte sie Kareem: "Was sind das eigentlich für Poster dort an deinem Schrank? Ich hab zwar schon ein paar von euren komischen Serien angeschaut, aber die von den Bildern dort kenne ich nicht."
Evelynn war heute das erste Mal in Kareems Quartier gewesen und hatte bisher keine Möglichkeit gehabt sich umzusehen. Auf Kareems Gesicht breitete sich ein riesiges Grinsen aus. Frank der wusste was jetzt kommen würde stöhnte leise auf und hielt sich die Ohren zu. Außer Evelynn hatten sie alle schon viel zu oft die Geschichten über seine ach so tollen Serien gehört. Sobald jemand eine Vorlage lieferte verwandelte sich Kareem in den leidenschaftlichsten Erzähler den Michael je kennengelernt hatte. Und wie zu erwarten dauerte es auch keine fünf Sekunden, bis Kareem sich Evelynn geschnappt, und zu seinem Schrank gezerrt hatte. Mit einem Leuchten in den Augen begann er ihr alles zu erklären.
„Natürlich kennst du die Serien nicht, du kannst sie gar nicht kennen. Die Serien sind aus dem Ende des zwanzigsten Jahrhunderts und Anfang des einundzwanzigsten. Die meisten Leute denken die Unterhaltung von damals ist allesamt langweilig aber das stimmt gar nicht. Hier auf dem Poster zum Beispiel, der Mann darauf heißt Michael Knight, gespielt von David Hasselhoff - ein fabelhafter Mann, wirklich -"
Es dauerte nicht lange bis sich Michael gedanklich von seinem uralten Namensvettern und allem anderen von dem Kareem erzählte weit entfernte. Er hatte es mittlerweile wirklich schon oft genug gehört. Evelynn allerdings folgte gebannt Kareems Worten, was diesen nur noch mehr dazu anspornte so viele Details wie möglich auf sie niederregnen zu lassen. Michael hatte den alten Serien noch nie etwas abgewinnen können. Zwar war er allgemein kein großer Freund von Schauspielerei als Unterhaltung, aber den modernen Filme und Serien konnte er wenigstens noch ein Mindestmaß an Vergnügen abgewinnen. Vor einem halben Jahr hatte er sich einmal an MacGyver versucht, es aber bald wieder abgebrochen. Es war genauso wie Kareem es gesagt hatte, er verstand einfach nicht was dort abging. Er mochte schon nichts was älter als dreißig Jahre alt war, da konnte ihn also ein mittlerweile seit fast 500 Jahre toter, glorifizierter Überlebenskünstler nicht fesseln. Jedenfalls hielt Michael MacGyver für genau das.
In einem Versuch sich von den Erzählungen Kareems über das A-Team abzulenken blickte Michael gedankenverloren aus dem Fenster.
Er wusste, dass es sich eigentlich nicht um ein richtiges Fenster, sondern lediglich um einen Bildschirm vor einer meterdicken Metallwand handelte, aber es störte ihn nicht. Die Schönheit des Weltraums um ihn herum war auch so atemberaubend.
Die bunt leuchtenden Wolken des Adlernebels erschienen heute in einem Gemisch aus Gelb und Violett was ziemlich selten vorkam. Er hatte schon tausende Male jene Nebel betrachtet und doch wurde es ihm niemals zu viel. Bereits als kleines Kind hatte er zu Hause auf seiner Minenstation auf dem Mars immer in den Nachthimmel geblickt und die abertausenden Sterne angeschaut. Er hatte sich damals als Ziel gesetzt alle Sterne im Universum einmal zu besuchen. Über die Unerreichbarkeit dieses Ziels war er sich damals natürlich noch nicht im Klaren gewesen. Nachdem seine Mutter bei einem Aufstand von der Résistance des Mars umgebracht wurde, lebte er einige Jahre auf der Straße und ernährte sich von Dingen die jeder normale Mensch als Müll betrachten würde. Selbst im fünfundzwanzigsten Jahrhundert gab es noch Orte die der Arm des Gesetzes nicht erreichen konnte. Doch auch während all der Schwierigen Jahre hatte seine Sehnsucht nach den Sternen niemals nachgelassen.
Die Universal Federation of Discovery, kurz UFD, war ihm damals zwar bekannt gewesen, allerdings war ein Flug zur Erde teuer und die Anwerber die ab und an den Mars besuchten, nahmen nur die Besten. Trotzdem blieb die UFD für ihn als riesige Raumfahrtgesellschaft interessant. Währenddessen begnügte er sich damit als Schrotthändler in der Verwaltungseinheit Gamma-Vier zu arbeiten. Erst einige weitere Jahre später eröffnete sich durch das Einsteigerprogramm der UFD die Möglichkeit endlich zu den Sternen zu reisen. Die Chancen waren gering und die Konkurrenz hart, aber er schaffte es durch Ambition und Feuereifer - Eigenschaften die der UFD bis dahin fehlten - den Auswahlkurs zu bestehen. Es folgten vier Jahre Universität, dann weitere drei Jahre Praxisausbildung und zwei Jahre als einfacher Ingenieur. Unter normalen Umständen brauchte man zur Beförderung zum Captain mindestens zwölf Jahre Diensterfahrung, aber nach dem Krieg mit den Draktharr waren die meisten Captains der UFD entweder tot oder psychisch so zerrüttet, dass es für sie unmöglich war den Dienst fortzusetzen. Michaels exzellenten Noten und Referenzen machten ihn zu einem durchaus qualifizierten Kandidaten und er wurde seinem Ruf mehr als gerecht.
Und schließlich kam er hier an, als Captain eines Raumschiffes mit mehreren hundert Besatzungsmitgliedern und den Blick auf den Sternen. Doch so toll sein Blick auf die Sterne auch war, hatte er doch die beruhigende wenn auch meistens schlechte Eigenschaft ihn von den wirklich wichtigen Dingen des Lebens abzulenken. Leider hatten diese Dinge die nervtötende Angewohnheit sich von selbst wieder bei ihm zu melden.
Die synthetisch klingende, und computergenerierte weibliche Stimme des Schiffscomputers Alice ertönte und riss Michael aus seinen Träumereien. Selbst Kareem wurde aus seinen Erzählungen über Airwolf gerissen.
"Captain Michael Gunn, wir werden den Planeten Vaescon in wenigen Minuten erreichen. Ich schlage vor Sie begeben sich auf die Brücke und machen sich bereit für die Landung."
Mit einem Seufzer erhob Michael sich aus seinem Stuhl und strich seine Uniform glatt.
Nur mit einem T-Shirt und einer Jogginghose bekleidet meldete sich Kareem vom anderen Ende des Zimmers: "Moment mal, sollten wir nicht erst in ein paar Stunden auf Vaescon eintreffen?"
Michael beugte den Rücken durch und und ein ungesundes, wenn auch unglaublich befreiendes Knacksen durchlief seine Wirbelsäule.
"Ich hab unsere Fluggeschwindigkeit ein Bisschen hochgeschraubt. Ich will so langsam mal zu Hause ankommen. Und außerdem, dich braucht es doch sowieso nicht zu interessieren, du hast ja immerhin Urlaub."
"Wie wahr, wie wahr.", kam es von Kareem als Antwort. Sein Bett ließ ein ungesundes Ächzen verlauten als er sich demonstrativ darauf warf. Die Topfpflanze auf seinem Nachttisch wackelte gefährlich und kippte beinahe um.
Frank seufzte laut und richtete sich ebenfalls auf. "Ich würd's dir ja echt gern verübeln mir so die Freizeit zu klauen Michael, aber ich versteh dich nur zu gut."
Er lächelte, und musste an Franks himmlisches Weingut in den immergrünen Bergen Irlands denken. Der Klimawandel hatte das feuchte und kalte Irland des zwanzigsten Jahrhunderts zu einem wunderbaren Weinanbaugebiet gemacht. Nicht zuletzt auch der Ausbruch des Yellowstone-Vulkans vor zweihundert Jahren hatte viel fruchtbare Asche über den Atlantik getragen. Heute profitieren die Menschen von den positiven Aspekten des Ausbruchs.
Michael merkte, dass seine Gedanken schon wieder davon schwebten. Er musste sich zusammenreißen.
Mit noch einem letzten wortlosen Blick durch die Runde verließ er Kareem's Quartier und betrat den langen Gang dahinter.
Das grelle Weiß der Korridore mit kleinen Akzenten von Cyan und Grau wirkten auf die meisten UFD-Mitglieder nach einiger Zeit nervtötend und klinisch. Michael machte das alles nichts aus. Er war einer der wenigen, der auch nach langer Zeit noch gerne durch die langen Gänge des Schiffes lief. Unterwegs begegnete er noch kurz einem Techniker der ihn über eine Antriebsuntersuchung am Abend unterrichtete. Er hatte gehofft durch die Geschwindigkeitserhöhung etwas Zeit rausschlagen zu können, aber Protokoll war Protokoll. Er würde bis zum Abschluss der Überprüfung warten müssen. Immerhin gab das den Crewmitgliedern etwas mehr Zeit ihr Hab und Gut zusammenzupacken.
Als Michael den breiten Frachtaufzug erreichte, der ihn zur Brücke bringen sollte, stellte sich kurz bevor sich die Türen schlossen auch Evelynn neben ihn. Er hatte nicht bemerkt wie sie hinter ihm hergegangen war. Aufrecht und adrett wie immer wenn es an die Arbeit ging, nickte sie ihm nur kurz zu und richtete ihren Blick dann wieder nach vorne. Die freudige Atmosphäre des Pokerspiels war nun endgültig verschwunden. Der Unterschied zwischen der Freizeit-Evelynn und der Arbeit-Evelynn war wie Tag und Nacht. Von einem Moment auf den anderen konnte sie wieder so schweigsam und still werden wie ein Fisch. Überhaupt war das Zeigen von Emotionen für sie sehr selten. Nur unter privater Gesellschaft wie vorher beim Pokern, merkte man, dass auch sie zu Dingen wie Freude oder Lachen fähig war. Das war eben Evelynns Art. Oder viel mehr die Art ihres ganzen Volkes.
Evelynn kam von Kundria, einem Mittelgroßen Planeten aus dem Raumsektor 4-C, nur etwa vierzig Lichtjahre von der Erde entfernt. Die Kundria waren ein sehr naturbezogenes, wenn auch technologisch sehr fortschrittliches Volk von nur einigen wenigen Milliarden Individuen. Ihre Loyalität zur Familie und dem Planeten sorgte dafür, dass sich nur sehr wenige Kundria jemals der UFD anschlossen. Auch wenn der Kontakt mit den Kundria schon vor vielen Jahrzehnten hergestellt wurde, war Michaels Wissen über ihr Volk nur wenig mehr als rudimentär. Über das Niveau des obligatorischen Informationskurses an der Universität war er nie gekommen.
Warum Evelynn den Schritt getan hatte sich die UFD als Arbeitgeber auszusuchen wusste er nicht. Er hätte es in ihrer Personalakte einsehen können, als Captain hatte er schließlich das gute Recht dazu. Er zog es aber vor nicht im Privatleben seiner Crewmitglieder herumzuspionieren wenn es nicht unbedingt erforderlich war.
Da die Sprache der Kundria für die Menschen beinahe unaussprechlich ist, hatte Evelynn, wie auch die wenigen anderen Kundria in der UFD, einen neuen Namen geben lassen. Es war zwar für die meisten Kundria ein erniedrigender aber leider notwendiger Schritt. Namen hatten in der Kultur der Kundria eine große Bedeutung inne. Ihn aufzugeben war für viele Schwieriger als die eigentliche Ausbildung. Evelynn hatte es besser weggesteckt als viele andere, hatte aber trotzdem eine lange Zeit gebraucht sich daran zu gewöhnen. Mittlerweile merkte man jedoch nichts mehr davon.
Als der Aufzug anhielt holte ihn das leise Summen des Türmechanismus wieder in die Realität zurück. Sofort hüllten ihn das rege Gemurmel der Crewmitglieder und der dezente Geruch nach Gummi und altem Plastik ein.
Er betrat die Brücke und lief zu seinem Platz auf der Empore in der Mitte des großen Raumes. Zu jedem Zeitpunkt befanden sich mindestens dreißig Crewmitglieder auf der Brücke die jede Bewegung auf und um das Schiff koordinierten. Evelynn hatte sich nach links zu ihrem Panel begeben und begann mit ihrer Arbeit als Kommunikatorin.
Der weiche Sessel des Captains wäre für jeden Menschen der nicht über zwei Meter groß ist wohl bequem gewesen. Michael jedenfalls drückte die Kopflehne unangenehm in den Nacken und es gab keine Möglichkeit sie zu verstellen. Er kommandierte ein knapp eine Million Tonnen schweres Raumschiff des späten vierundzwanzigsten Jahrhunderts in dessen Entwicklung Billionen investiert wurden, und dann wurde ein Stuhl ohne verstellbare Kopflehne verbaut. Michael hatte bereits vor über einem Jahr aufgegeben sich darüber zu ärgern.
Er drehte sich im Sessel ein wenig nach links und wendete sich hinüber zu seiner Navigatorin. Die etwas dickliche aber ungemein freundliche Mrs. Kayle mit ihrem faltigen Gesicht war bereits viel länger im Dienst als er selbst. Michael schätzte sie ungemein für ihre freundliche Art und Weise mit der Crew umzugehen.
Obwohl der Schiffscomputer Alice ihn bereits auf die Flugdauer aufmerksam gemacht hatte, beschloss er noch einmal Mrs. Kayle zu fragen. "Na, wie sieht's aus? Wie lange noch bis wir einen stabilen Orbit erreichen?"
Sie schmunzelte leise und deutete auf ihr Navigationspanel. "Nur noch etwa drei Minuten, dann können wir uns nach einem geeigneten Orbit umsehen. Und bei allem Respekt Captain, aber Sie hören sich an wie ein kleines Kind so wie sie fragen wann wir endlich da sind." Michael musste lachen und drehte sich zu dem großen Bildschirm an der Vorderseite der Brücke. Für die meisten anderen Captains der UFD wäre die Art und Weise wie Michael mit seiner Crew umging geradezu primitiv vorgekommen. Doch nachdem vor einigen Jahren die militärischen Ränge wegen ihrer negativ behafteten Vergangenheit abgeschafft wurden, hatte sich Michael dazu entschieden die Atmosphäre des Schiffes allgemeinen etwas familiärer zu gestalten. Wenn man beinahe zwei Jahre mit diesen Menschen verbringt, sollte der Umgang untereinander das distanzierte Niveau des Protokolls überschreiten dürfen. Jedenfalls dachte Michael so, und hunderte Lichtjahre von der Erde entfernt gab es auch niemanden der ihm das verbieten konnte.
Gerade huschten wegen des Überlichtfluges nur extrem verzerrte Schlieren über den Bildschirm. Die Raumblase in der sich das Schiff zurzeit befand verhinderte eine Klare Sicht auf die Umgebung. Nur in den Quartieren der Besatzung konnte man auf rekonstruierte Bilder der Umgebung blicken. Michael, dem von den verzerrten Bildern noch immer leicht schwindelig wurde, hatte schon oft beantragt auch die Übertragung des Hauptbildschirms durch die hübschen, klaren Bilder zu ersetzen, aber das wurde aus taktischen Gründen bisher immer abgelehnt.
Sein Raumschiff, oder "Fat Snake" wie die Constellation-Klasse im allgemeinen genannt wurde, war ein Forschungsschiff der Extraklasse gewesen als es die Raumwerft vor etlichen Jahren verließ. Wie ein dicklicher Schlauch wand sich das Schiff mit der tausendfachen Lichtgeschwindigkeit durch das Weltall. Daher kam auch der Name. Seit Mitte der zwanziger Jahre des fünfundzwanzigsten Jahrhunderts wurden keine neuen Schiffe der Constellation-Klasse mehr gebaut. Die Constellation 1.405.1 auf welcher er sich gerade befand, würde nach diesem letzten Einsatz ebenfalls den Dienst einstellen. Danach würde es entweder als Minenschiff im Asteroidengürtel oder als Ersatzteillager enden. Seine Tage als Forschungsschiff waren endgültig gezählt. Michael selbst würde zurück nach Hause auf die Erde kehren. Auf dem Mars war er seit seiner Einsetzung als Rekrut nicht mehr gewesen. Die Erde war für ihn ein viel willkommenerer Planet geworden. Er hatte dem endlosen Roten Sand des Mars nie etwas abgewinnen können. Selbst seit der Terraformung hatte sich nicht viel an der allgemeinen Farbe der Umgebung geändert.
Sein Haus nahe Dublin wartete bereits seit mehr als einem Jahr auf ihn und wirkte weitaus einladender. Dort würde er dann zwei oder drei Monate Urlaub machen bevor ihn die nächste Mission erwartete. Erst vor einigen Wochen hatte ihn die Nachricht erreicht, dass er derjenige sein würde, der das neue Flaggschiff der UFD kommandieren sollte. Es wäre eine Übertreibung zu sagen, dass er nicht überrascht gewesen wäre. Aber nach einiger Überlegung wurde ihm klar, dass dies wohl die plausibelste Lösung sei. Der Mangel an tauglichem Personal machte der UFD in allen Bereichen zu schaffen, und auch das Flaggschiff musste irgendwie besetzt werden. Da die Constellation ausgedient hatte wurde sozusagen ein Captain frei. Trotzdem, er hatte über ein Jahr mit der Constellation verbracht, und sie war sein zweites Zuhause geworden. Es einfach so durch eine bessere Variante zu ersetzen sorgte für einen bitteren Beigeschmack.
Die Sensorikerin Catherine Weigh unterbrach seine Gedanken durch eine neue Meldung.
"Captain? Wenn ich mich richtig erinnere sollten wir auf Vaescon eine Lebensform untersuchen, richtig?"
Etwas verdutzt drehte er sich zu Mrs Weigh herum. "Das hat sich jetzt aber sehr herablassend angehört, finden Sie nicht? Nur weil die Vaesca weniger entwickelt sind als wir, heißt das nicht, dass wir sie wie Tiere behandeln sollten."
"Ja doch natürlich Captain, so war das gar nicht gemeint. Verzeihen Sie mir bitte. Es ist nur... Also dort gibt es kein Leben."
Mit diesen Worten hatte sie Michaels Aufmerksamkeit endgültig gepackt. Er drehte sich ganz nach rechts zu ihr um, um sie besser sehen zu können.
"Was meinen Sie damit? Wir waren doch erst vor ein paar Monaten das letzte Mal dort."
Sie wirkte etwas überfordert mit ihrem Panel, was Michael nur umso mehr besorgte. "Also gut, natürlich kann es dort Leben geben, aber zumindest nicht in Form eines großen Organismus. Die Umweltbedingungen dort auf dem Planeten sind nicht kompatibel mit intelligentem Leben. Und ich glaube wir alle können uns erinnern, dass es auf Vaescon das letzte mal anders war. Ich meine wir haben sie ja schließlich gesehen. Ich kann mir wirklich keinen Reim daraus machen." Sie warf erneut einen Blick auf ihr Panel und schüttelte den Kopf. "Moment Captain, eine Sekunde." Sie drehte sich nach hinten zu einem ihrer Mitarbeiter um. "Harry, kann ich mal kurz an dein Panel?" Der Systemingenieur Harry Kayn war genauso verwirrt wie Michael, machte aber einen Schritt zur Seite und ließ sie seine eigene Station benutzen. Einige Sekunden später wendete sie sich wieder ihrem eigenen Panel zu, dasselbe verzweifelte Lächeln auf den Lippen wie vorher auch.
Michael wurde so langsam etwas ungeduldig und fragte: "Mrs. Weigh? Klären Sie uns jetzt bitte mal auf?" Sie schien ihn jetzt erst wieder bemerkt zu haben und erwiderte: "Natürlich Captain, tut mir leid. Also hier... die Langstreckensensoren sagen, dass die Durchschnittstemperatur des Planeten Einhundertundacht Grad Celsius sei." Es dauerte ein paar Sekunden bis Michael realisiert hatte was er da eben gehört hatte und antworten konnte. "Einhundertundacht? Sind Sie sicher?"
"Deswegen hab ich doch grade noch bei Harry geschaut. Glauben Sie mir Sir, ich bin sicher."
Es folgte eine kurze Stille in der keiner so recht wusste, was zu sagen angebracht war. Schlussendlich lag es an Michael als Captain die Entscheidung zu fällen was als nächstes passieren sollte. Die Constellation als Schiff war zwar alt, aber nicht so alt, dass sie Sensordaten derart falsch interpretieren würde. Er beschloss zuerst den Schiffscomputer zu fragen, ob Programmfehler oder Hardwareprobleme vorlagen.
"Alice, sind in letzter Zeit irgendwelche Programmfehler aufgetreten die die Sensorik beeinflussen könnten?" Es dauerte nur einen kurzen Moment bis sich die synthetische Stimme zurückmeldete.
"Definieren sie folgenden Parameter: In letzter Zeit"
Michael seufzte und rieb sich die Augen. „Sagen wir mal sieben Tage."
„Überprüfe Fehlerlog der letzten sieben Tage." Nach ein paar Sekunden meldete sich Alice wieder. „Innerhalb der letzten sieben Tage sind keine Fehler aufgetreten die die Sensorik beeinflussen könnten. Soll ich eine Selbstdiagnose durchführen um genauer zu suchen?" Michael überlegte kurz zu verneinen, hielt es dann aber doch für das beste die Diagnose durchführen zu lassen. Es konnte schließlich nicht schaden. Auf die Ergebnisse der Selbstdiagnose zu warten würde jedoch zu lange dauern, so viel Zeit hatten sie nicht um die Ursache für die fehlerhaften Messungen herauszufinden. Jedenfalls hielt Michael die Meldung für genau das, eine fehlerhafte Messung. Er wollte lieber noch nicht darüber nachdenken was er würde tun müssen wenn es sich um gültige Informationen handelte. Er wischte die Gedanken beiseite. Es war schließlich unmöglich, dass es sich um valide Messungen handeln konnte. Als nächstes wandte er sich wieder an Mrs. Weigh, die als Sensorikerin noch am ehesten wissen sollte was die Fehler verursacht haben könnte. Wobei er sich ihrem Gesichtsausdruck zu urteilen, dessen nicht mehr völlig sicher war.
"Mrs. Weigh, Sie gehen jetzt runter auf Deck elf. Schnappen Sie sich unterwegs irgendjemanden von der Technik. Wenn derjenige denkt, dass er was besseres zu tun hat, dann richten sie ihm liebe Grüße von mir aus. Ich will, dass Sie sich dort unten genau die Sensoren noch einmal anschauen. Ich weiß, dass Sie sie erst vor ein paar Tagen das letzte Mal angesehen haben, aber irgendwas scheint ja wohl nicht zu stimmen."
Als Antwort kam lediglich ein Nicken zurück und Während Mrs. Weigh die Brücke verließ, kehrte ein leises Gemurmel wieder auf die Brücke zurück. Aber es war nicht angeregt wie sonst, sondern gedämpft und mit einem leicht angespannten Unterton. Jeder wusste, dass eine solche Fehlmeldung selbst für alte Schiffe nicht normal war. Michael wünschte es gäbe etwas zu tun während sie alle warteten. Selbst die eintönigen Logbucheinträge wären ihm jetzt eine willkommene Unterbrechung gewesen, nur hatte er sie bereits gestern fertiggestellt. Zum Teufel auch mit seinem Pflichtbewusstsein!
Die zwei Minuten die Mrs Weigh brauchte um sich wieder zu melden, kamen ihm wie eine halbe Ewigkeit vor. Sie klang ziemlich erschöpft. Wahrscheinlich war sie die Korridore entlang gerannt um rechtzeitig da zu sein.
"Also Captain, ich hab mir unterwegs mal Mr Cunning geschnappt, und der hat jetzt mit mir die Sensoren durchgeschaut. Mit der Hardware kenne ich mich zwar nicht sonderlich gut aus, aber so wie es aussieht -"
Die kratzige Stimme von Mr Cunning knisterte leicht als er Mrs. Weigh unterbrach.
"Tut mir leid Amelia, aber lass das mal lieber mich machen." Es kam kein Einspruch von ihrer Seite.
"Also Captain, ich hab mir hier mal alles durchgeschaut, und mal abgesehen von einer enormen Staubschicht und einem verbeulten Chassis gibt es hier nichts was eine Fehldeutung der Sensordaten verursachen könnte. Die Empfänger laufen normal, die Chlorophytphasen sind alle -"
"Verschonen Sie mich mit Details Mr. Cunnings, wir haben es gerade etwas eilig. Die Kurzfassung bitte."
"Na gut, Sie sind der Chef. Wenn ich es nicht besser wüsste, dann würde ich sagen das Ding ist brandneu. Scheint zu stimmen was auch immer sie da auf dem Schirm haben. Warum ist das überhaupt alles gerade überhaupt so verdammt wichtig? Ich habe schließlich auch andere Dinge zu erledigen."
Michael ging auf Mr. Cunnings Frage lieber nicht ein. Stattdessen bedankte er sich und beorderte Mrs. Weigh zurück zu ihrer Station auf der Brücke. Bevor irgendjemand Michael fragen konnte was er denn als nächstes tun wollte, meldete sich der erste Steuermann wieder zu Wort.
"Wir werden in dreißig Sekunden den Planeten erreichen. Danach kann ich Ihnen die Bilder besorgen." Michael war ihm für die Unterbrechung unglaublich dankbar. Alles schwieg während die Blicke auf die über den Bildschirm tanzenden weißen Streifen gerichtet waren. Nach einem Countdown brach die Raumblase um sie herum zusammen und gab endlich den unverzerrten Blick auf eine kleine rötliche Kugel frei. Michael runzelte die Stirn. Der Planet war zwar von großen Wüsten bedeckt, hatte aber trotzdem große Grünflächen. Von so großer Entfernung war allerdings nicht wirklich viel zu erkennen.
„Zehnfache Vergrößerung." Der Computer vergrößerte das Bild sofort. Es war immer noch nicht viel mehr zu erkennen, aber Michael glaubte kleine Flecken auf der Oberfläche zu erkennen. Erst bei hundertfacher Vergrößerung konnte man den Planeten richtig erkennen.
Auch ohne das kollektive Aufstöhnen aller Crewmitglieder auf der Brücke wusste Michael sofort, dass er so schnell nicht wieder nach Hause zurückkehren würde. Hinter ihm öffnete sich die Tür zum Aufzug und Mrs. Weigh betrat die Brücke. Sie blieb wie angewurzelt stehen und starrte, wie alle anderen auch, die brennende und von Kratern übersäte Oberfläche des Planeten an.
Es war wohl kein Sensorfehler gewesen.
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Darkness Above
Science FictionNachdem Captain Michael Gunn im fünfundzwanzigsten Jahrhundert wegen Gesetzesverstoß ungerecht inhaftiert wird, sind er und sein Schiff die einzigen, die die Menschheit vor einer Gefahr bewahren können, wie sie noch nie gesehen wurde