Als Jenny ihre Augen öffnete, herrschte draußen noch völlige Finsternis und das Haus knarzte im Wind. Ein Blick auf ihren Wecker genügte, um festzustellen, dass es schon kurz nach sechs Uhr morgens war. Jenny schaltete das kleine Taschenradio ein, was neben ihrem Bett stand. Die Nachrichtensprecher meinten etwas von einem noch nie so stark dagewesenen Sturm, der wohl noch bis Ende der Woche andauern sollte. Sie rieten davon ab, unnötig das Haus zu verlassen. Die Schulen seien schon geschlossen worden. Jenny wurde leichter ums Herz. Diesmal würde sie niemand für verrückt halten, wenn sie etwas von einem Sturm erzählte.
Die Schulen in diesem Ort und näheren Umgebungen waren also geschlossen worden... Eigentlich hätte Jenny sich darüber freuen sollen, aber sie hatte ein derartig unheimliches Deja vu Erlebnis, dass ihr alles andere als froh zumute war. Eine bisher unbekannte Angst umklammerte ihr Herz und schien es zusammen zu drücken. Jenny schloss ihr Fenster und hüllte sich in ihre Bettdecke ein. Diesmal würde sie, komme was wolle, nicht hinaus gehen, nahm sie sich fest entschlossen vor. Sie würde einfach in ihrem Zimmer ausharren und warten, zumindest bis sie Hunger bekam. Dann gänge sie natürlich hinunter in die Küche.
Der Wind peitschte um ihr Haus. Der Regen knallte gegen die Fenster. Alles war stockfinster, drinnen sowie draußen. Den Strom anzuschalten hätte nicht viel bewirkt. Bei diesem Wetter war funktionierende Elektrizität genauso aussichtslos wie einen Spaziergang zu machen und dabei trocken zu bleiben. Jenny zog die wichtigsten Kabel aus den Steckdosen heraus. Das betraf leider in jedem Raum des Hauses irgendetwas und sei es die Kaffeemaschine. In ihrem eigenen Zimmer zog sie nur den Computer und das Handy ab. Irgendwie schien sie vom Pech verfolgt zu werden... Erst dieser Samstag Abend und dann... eigentlich die gesamte Woche über...
Die Fensterläden klapperten unten. Jenny zog die Knie fest an ihre Brust. >>Alles nur der Wind<<, wiederholte sie immer wieder, bis sie merkte, dass sich die Worte in ihrem Kopf als monotoner Singsang abspielten. Die Zeit schien nicht vergehen zu wollen. Es war gerade mal eine Stunde vergangen, seit sie aufgewacht war. Das würde eine verdammt lange Woche werden...
Schließlich wurde es Jenny doch zu langweilig. Sie entschied sich, ein Buch aus dem Wohnzimmer zu holen und es im Schein ihrer Taschenlampe zu lesen. Diesmal sollte es aber eine eher ruhigere, fantasievolle Geschichte sein.
Auf leise Sohlen lief Jenny die Treppe hinunter. Sie zuckte bei jedem lauteren Geräusch zusammen und sah sich bei jedem geworfenen Schatten dreimal um, bevor sie näher trat. >>Mach dich nicht lächerlich. Wer sollte hier schon sein? Ich bin mitten im Wald<<, murmelte Jenny. Letztendlich entspannte sie sich ein wenig und lief das große Bücherregal ab. Es gab so Vieles, was sie lesen könnte. Sie strich über den Buchrücken eines Buches, das ihr noch nie sonderlich aufgefallen war. >>Die Gilde der schwarzen Magier? Das klingt ziemlich düster<<, meinte sie unsicher, zog es aber dennoch hinaus und las einige Sätze.
In Imardin, so heißt es, habe der Wind eine Seele und pfeife heulend durch die schmalen Straßen der Stadt, weil das, was er dort finde, ihn mit Trauer erfülle. Am Tag der Säuberung heulte der Wind durch die schwankenden Masten der Schiffe im Hafen, peitschte durch das Westtor und schrie die Gassen hinunter. Dann verstummte er plötzlich, bis nur noch ein Wimmern zu hören war, als seien ihm die zerfetzten Seelen, die ihm entlang des Weges begegneten, eine unerträgliche Qual.
Nach ein paar weiteren Seiten, die Jenny überflogen hatte, stellte sich heraus, dass diese Story alles andere als düster war. Sie gefiel ihr sogar ganz gut. Der Schreibstil der Autorin war wirklich fesselnd. Mit Bedauern betrachtete Jenny die Seitenzahl genauer. Es waren nicht mehr als 400 Seiten, aber sie fand heraus, dass es noch insgesamt neun weitere Teile gab, die sich bestimmt irgendwo zwischen den anderen Büchern finden ließen. Wenn das keine Beschäftigung für ein paar Tage war, dann wusste Jenny auch nicht weiter.
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Im Mondschein geboren
Fantasy"Sieh mir in die Augen und sag, dass du mich hasst!", forderte sie. Alex blickte zu Boden. "Sieh mich an, bitte." Zögernd blickte er zu ihr auf. Seine kühlen, blauen Augen spiegelten das Mondlicht wider. "Ich lüge nicht gern, deswegen kann ich deine...