Sechsundzwanzig Minuten Beständigkeit

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In Astrids Leben schien so gut wie nichts von Dauer zu sein. Nichts Routiniertes, nichts Permanentes, nichts Verlässliches. Sie erzählte mir nie genau, was sie damit meinte; sie sprach über alles und nichts. Und ich hatte nie nachgehakt, nie mehr wissen wollen. Sie redete nicht darüber, ich akzeptierte das. Wahrscheinlich hätte Neugier meinerseits etwas zerstört, sodass unsere Gespräche nie wieder so sein hätten können wie vorher. Und doch war ich mir sicher, dass ein Grund, weshalb ihr die montäglichen Busfahrten, so viel bedeuteten, mit eben dieser Unbeständigkeit ihres restlichen Lebens zu tun hatte. Die Bushaltestelle, an der Astrid jeden Montagmorgen mit ihrer alten Ledertasche stand, befand sich unweit der Limonengasse, wo ihr Vater einen Plattenladen führte. Astrid und er wohnten in einer Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung direkt darüber; sie im Halb-Zimmer, wie sie es nannte. Sie sagte nie einfach nur „mein Zimmer", weil es eben ein Halb-Zimmer war. Es mag vielleicht seltsam klingen, aber ich habe sie dafür sehr gemocht. Astrid verdrehte grundsätzlich nie Tatsachen. Sie konnte wahrscheinlich gar nicht lügen, so glaubte ich. Es war als wäre das Lügen eine Fähigkeit, die sie zwar besaß, der sie sich aber entzog. Wollte sie etwas nicht aussprechen, so ließ sie die Details einfach aus. Und so erfuhr ich nie mehr über sie, als sie zuließ. Der Montag, der uns miteinander bekannt machte, war für mich zunächst wie jeder andere. Ich saß wie immer auf dem zweiten Sitzplatz hinter dem Vierer, meinen Kopf an die Scheibe gelehnt und betrachtete das Schauspiel der Regentropfen, wie sie an der Scheibe immer weiter nach unten kullerten, sich teilweise kreuzten und die Bahn zusammen weiterführten. Ich war so vertieft in meine Beobachtungen, dass ich aufschreckte, als sich die Bustüren mit einem seltsamen „Pffff"-Geräusch öffneten. Damals war es nur ein Mädchen im roten Mantel mit kurzen, dunkelblonden Haaren und einer Ledertasche unter den Arm geklemmt, das einstieg. An all den darauffolgenden Montagen war es Astrid. Nur Astrid, die einstieg. Manchmal glaubte ich, die Bushaltestelle wurde ganz und gar nur von ihr genutzt. Es war so, als stünde sie nur für sie da, für unseren Montagmorgen im Bus. Nachdem sie bezahlt hatte, setze sie sich neben mich. Einfach so. Ich habe nichts dagegen neben Fremden zu sitzen, im Gegenteil. Es wunderte mich nur, weil der Bus leer war. Sie hätte sich jeden x-beliebigen Platz aussuchen können, statt sich neben einen alten Mann zu setzen.

„Wieso hast du das gemacht?", fragte ich sie. „Dich neben mich gesetzt, meine ich."

Und sie erwiderte nur „Warum alleine still dasitzen, wenn da jemand ist?" Und sagte dann: „Ich bin Astrid und du?"

Von da an waren wir Bus-Bekannte. Wahrscheinlich mehr als das. Jeden Montagmorgen Busgespräche; immer genau sechsundzwanzig Minuten Fahrtzeit zu zweit, dann stieg Astrid aus. Die längsten sechsundzwanzig Minuten meines Lebens waren immer die mit ihr im Bus. Es fühlte sich an, als gäbe es sogar ein eigenes Bus-Leben, so bedeutsam waren unsere Worte. Astrid hat es nie ausgesprochen, aber ich weiß, sie hatte in uns ihre gesuchte Beständigkeit gefunden. Hätte sie sich damals nicht neben mich gesetzt, wäre es vermutlich nie zu unseren Busgesprächen gekommen, es hätte nie ein „Wir" gegeben und ich hätte an diesem einen Montag weiter Regentropfen angestarrt.

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