Teil I

124 12 3
                                    

5. November 1956

Youngjae blickte mit seinen immer zu glasigen Augen zu der seltsamen Menschenfrau hinauf. Leise schniefte der 6-jährige Junge und kauerte sich mehr in die dunkle Ecke seines Schlafzimmers zusammen. Die Frau, die von ihm Eomma genannt werden wollte, kam näher. Ihre Augen waren weit aufgerissen und waren mit Wahnsinn gefüllt.

„Youngjae, mein kleiner Liebling, hab ich dir nicht gesagt, dass du das Zimmer nicht verlassen darfst.", fragte sie naiv und wirkte absolut realitätsfern. Youngjae zog sich eine seiner unzähligen Decken über den Kopf, so dass nur sein Gesicht sichtbar war. Kein Wort verließ seinen Mund. Er sprach sowieso gar nicht. All die Jahre, die er hier verbrachte, hatte er nicht gesprochen. Er konnte es auch nicht sonderlich gut, da man ihm in dem Sinne nicht viel beigebracht hatte. Er war für sein Alter unterentwickelt. Youngjae verstand vieles nicht. Er wusste nicht, warum er hier war. Diese Frau war nicht seine Mutter, sowieso kannte er seine Eltern überhaupt nicht. Er war verwirrt und diese Irritation machte ihm Angst.

„Ach... Mein kleiner Youngjae...", säuselte Eomma, die Youngjae widerwillig in seinen Gedanken so nannte, weil er sonst keine andere Bezeichnung für die Frau hatte, „Weil du dein Zimmer verlassen wolltest, muss ich dich leider bestrafen. Du wirst heute kein Abendessen bekommen und ich werde dir heute Abend auch kein Märchen erzählen."

Youngjae blieb wie immer stumm und kugelte sich in seine Decke zusammen, um Eomma nicht sehen zu müssen. Er wollte sie nicht sehen, mit ihren fettigen und dünnen schwarzen Haaren und ihrer gebückten und knochigen Statur. Leise quiekte Youngjae auf, als er sanft hochgehoben wurde und auf seinem pompösen weißen Bett inmitten der ganzen Kissen und Decken gelegt wurde. Mit schnellen Bewegungen versteckte sich er sich unter dem Berg an Decken.

„Schlaf gut, Youngjae.", verabschiedete sich die Frau und verließ den Raum. Youngjae hörte noch wie der Schlüssel im Schloss umgedreht wurde und lugte vorsichtig wieder hervor. Er war wieder eingesperrt und doch war er ein wenig froh, dass Eomma zumindest an diesem Tag nicht mehr wiederkommen würde. Eine Mahlzeit konnte er auch auslassen und die Märchenstunde brauchte er nun wirklich nicht. Die Geschichten machten ihm Angst, sogar etwas traurig. Sie raubten ihm jegliche Hoffnung. Er erinnerte sich noch genau an die Märchen. Nie war der Prinz der wahre Retter und Happy Ends gab es auch kaum. Sie waren brutal und absolut nicht kindergerecht. Sie brachten Youngjae zum Weinen. Arielle hatte nicht nur ihre Stimme verloren, sondern ihr wurde die Zunge herausgeschnitten und weil sie es nicht übers Herz gebracht hatte den Prinzen zu töten und sich stattdessen ins Meer gestürzt hatte, löste sie sich einfach in Schaum auf. Schneewittchen wurde nicht vom Prinzen wachgeküsst. Er hatte einfach nur plump den Glassarg, in welchem sie sich befunden hatte, fallen gelassen, wodurch sich das Apfelstückchen in ihrem Hals gelöst hatte und sie so wieder zum Leben erwachte. Dornröschen hatte gar kein Happy End. Sie schlief gar nicht, sondern war tot. Der Prinz hatte sie nicht wachgeküsst, sondern sich zu ihr gelegt, mit ihr geschlafen und war dann wieder gegangen. Verstörend, oder? Youngjae wusste, dass er niemals in seinem Leben einen Prinzen haben wollte. Es brachte nur Kummer und Leid. Und die Märchen brauchte er auch nicht mehr zu hören. All die Jahre hatte Eomma ihm keine erzählt und nun hatte sie darin wohl etwas Neues für ihren Liebling gefunden. Youngjae konnte darauf getrost verzichten.

♟♟♟ⓉⒽⒺⒷⓄⓎⓏ♟♟♟

18. November 1956

Youngjae stand vor dem Fenster, welches mit Holzbrettern blickdicht verriegelt war. Nur durch einen kleinen Spalt konnte er hindurchsehen und beobachtete mit großen Augen den Vollmond, welcher sichtbar war. Er war wunderschön und verzauberte ihn. Er fühlte sich irgendwie angezogen von dem Planeten. Mehr als den Tag- und Nachthimmel hatte er aus der Außenwelt nicht zu Gesicht bekommen. Er wusste nicht, wie Menschen draußen lebten.

The Womb ||JuRic||Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt